Als die Türken zu Beginn
des 14. Jahrhunderts in den Gebieten erschienen, die heute zur Türkei
gehören, d. h. Thrazien, Anatolien und Kleinasien, fanden sie nur kleine
jüdischen Gemeinden vor, die noch in der römischen Epoche gegründet
worden waren. Brussa (Bursa) war die erste Stadt mit jüdischen Bevölkerung,
die die Türken eroberten. Die Juden, die viel unter dem byzantinischen
Kreuz zu leiden gehabt hatten, atmeten unter dem *Islam auf. Die Türken
ließen ihnen *Religionsfreiheit und belästigten sie nicht, so dass sie in
völliger Sicherheit lebten. In dieser Zeit begann für die Juden des nahen
Orients eine lange Periode der Ruhe, die sie für die Leiden im Abendlande
entschädigte.
Bis zum 19. Jahrhundert.
waren die Juden unter den Türken nicht durch Sondergesetze beschränkt. Sie
genossen das Wohlwollen der Sultane, die vielfach Juden zu ihren Ärzten
wählten, jüdischen Ratgeber, Gelehrte und Minister
ernannten, in denen die jüdischen Bevölkerung immer ihre Verteidiger am
kaiserlichen Hofe hatte; überdies war das Verhältnis zwischen Islam und
Judentum äußerst friedlich. So ist die Geschichte der Juden in der Türkei
zwar sehr ruhmvoll für einzelne Persönlichkeiten, zeigt aber andererseits
die Massen in Unwissenheit und Armut. Die autokratische Regierung, die an
kein festes, gesetzliches System gebunden war, kümmerte sich weder um die
Massen des türkischen Volkes noch um die anderen Untertanen.
Die ersten Sultane: Orchan,
Murad I., Mohammed
I., Murad II..
(1326 -1451), führten die Steuer »Khanadji« ein, durch die
die jüdischen Bevölkerung das Recht erwarb, Grundbesitz in Stadt und Land
zu haben. Die Städte *Brussa und *Adrianopel, das mit seiner
Talmudschule bald zum Mittelpunkt der jüdischen Siedlung in der Türkei
wurde, begannen sich mit Juden der Nachbarländer zu bevölkern, die unter
dem Halbmond ein Asyl suchten.
1453
nahmen die Türken *Konstantinopel
ein. Der Eroberer Mohammed
II. war den Juden sehr wohlgesinnt. Die große Gemeinde von Konstantinopel
wurde nunmehr der politische und kulturelle Mittelpunkt der türkischen
Juden. Unter Mohammed II. nahm der große Gelehrte und erste *Chachambaschi
Rabbi Moses *Capsali am
Staatsrat (Divan) als Repräsentant des türkischen Judentums teil. Die Lage
der Juden erschien nach den byzantinischen und abendländischen Verfolgungen
so friedlich, dass der in der Türkei wohnende Rabbiner Isaak *Zarfati
um 1470 ein hebräisches Rundschreiben an alle jüdischen Gemeinden in
Deutschland und Ungarn richtete, worin er die Glaubensgenossen aufforderte,
ihre Länder zu verlassen und sich in der neuen Heimat anzusiedeln. In der
Tat nahmen die Sultane die Opfer der grausamen Austreibungen aus den
christlichen Ländern *Spanien und *Portugal mit
rührender Gastfreundschaft auf. Der Sultan Bajazet
II. (1481-1512) soll einmal zu seinen Höflingen gesagt haben: »Ihr
nennt Fernando einen weisen König - ihn, der sein Land verarmt und das
unsrige bereichert hat!«
Tatsächlich wurde die
Türkei in moralischer und materieller Hinsicht durch die Einwanderung der
spanischen Juden wertvoll gestärkt; diese brachten mit der spanischen
Sprache und Literatur eine hohe Kultur in die Türkei mit und stellten die
besten Ärzte und die größten Gelehrten, unter denen die Familie der «Hamon»
besonders berühmt ist. Um die Wende des 15. Jahrhunderts befanden sich etwa
100.000 *Marranen in der Türkei. Konstantinopel hatte im 16. Jahrhundert
bereits 44 Synagogen.
Die spanischen Auswanderer
oder Sephardim gründeten in *Smyrna und *Saloniki große
Gemeinden, und die spanischen Juden spielten bald in der Judenheit eine
hervorragende Rolle, die sie bis in die Gegenwart behalten haben. Die
Einwanderung der Aschkenasim, d. h. der Juden aus Ländern mit deutscher
Sprache, die zur gleichen Zeit begann, hatte keinen so großen Einfluss. Die
aschkenasischen Juden hatten ihre eigenen Synagogen und unterschieden sich
äußerlich und innerlich von ihren spanischen Brüdern.
Unter Suleiman
dem Prächtigen (1520-66) und Selim
II. (1566-74) gelangten die Juden zu größtem Ansehen. Suleiman setzte einen Juden, Schalti’el, unter
dem Titel Kachjia (auxq)
als politischen Verteidiger der jüdischen Nation ein, der wie alle Hofleute
freien Zutritt zum Palast hatte. Suleiman
richtete auch die Mauern von Jerusalem und Tiberias wieder auf. Als unter
der Regierung Suleimans
das Ritualmordmärchen (s. Blutbeschuldigung) auch in der Türkei aufkam,
erließ dieser ein Edikt, auf Grund dessen in Zukunft über jede
Anschuldigung gegen die Juden, dass sie Menschenblut zur Herstellung von
ungesäuerten Broten (*Mazzot) verwendeten, nicht durch die gewöhnlichen
Gerichte, sondern im kaiserlichen Palast in Gegenwart des Herrschers selbst
verhandelt und geurteilt werden sollte. Die Beliebtheit dieses Sultans unter
den Juden der ganzen Welt war so groß, dass ihm bei seinem Einzug in
Budapest ein Juden, Josef ben Salomo, an der Spitze einer Deputation
entgegenkam, um ihm die Schlüssel der Stadt zu überreichen; die Nachkommen
dieses Mannes (mit dem Beinamen «Alaman»,
d. i. der Deutsche) leben noch jetzt in der Türkei, und sind seit jener
Zeit von jeder Art von Steuern und Lasten befreit.
Unter dem Nachfolger Suleimans,
dem Sultan Selim
II., lebte in der Türkei der bedeutende Juden Don *Josef Nassi, Herzog von Naxos, ein früherer *Marrane
João Miguez.
Als Günstling des Sultans und dessen erster Ratgeber hatte er starken
Einfluss auf die Politik ganz Europas. Hierüber, sowie über seinen
Versuch, in Palästina oder Zypern einen jüdischen Stadtstaat zu
gründen (siehe Artikel *Josef Nassi).
Zur selben Zeit lebte dessen
Verwandte, Donna Gracia *Mendesia,
die durch Reichtum und Klugheit viel zu der glücklichen Lage der Juden in
der Türkei beitrug. Ein Beispiel für den großen Einfluss Don Josefs und
der Donna Gracia ist der Fall von Ancona, in dem beide, um den Papst für
ein Autodafé der Juden in Ancona zu strafen, dafür sorgten, dass in diesem
Hafen jeglicher Handelsverkehr aufhörte.
Von der Regierung Selims
II. ab beginnt der Verfall des türkischen Kaiserreichs, der sich, stetig
begleitet von der Dekadenz des türkischen Judentums, bis ins 19.
Jahrhundert fortsetzt. Die späteren Sultane beginnen, durch dauernde
Schikanen und Sondergesetze, den Juden das Leben zu erschweren. Murad III. (1574-1595) erließ sogar einen Befehl,
sämtliche Juden des Kaiserreichs zu töten, jedoch gelang es Salomon *Aschkenasi,
die Ausführung des Befehls zu verhindern.
Noch gelang es zwar
einzelnen Juden, ausnahmsweise emporzusteigen, so Salomon Aschkenasi,
Ester *Kyra, dem Arzte
*Fonseca, aber im
allgemeinen wurde nun die Geschichte der Juden in der Türkei immer mehr
eine Kette von Kämpfen, namentlich zur Abwehr der *Blutbeschuldigung, die,
von Seiten der in der Türkei ansässigen griechischen Christen und der
Jesuiten ausgehend, immer wieder auftauchte. Dazu kamen Epidemien,
Feuersbrünste und Erdbeben, die viel Unheil über die Judenviertel
brachten.
1702 wurde den Juden
verboten, gelbe Pantoffel zu tragen und Füße und Kopf anders zu bekleiden
als mit Tüchern und schwarzem Leder.
1728 mussten diejenigen
Juden, die in Konstantinopel vor der Moschee der Valide-Sultane wohnten,
ihre Häuser an Muselmanen verkaufen, damit diese Moschee nicht mehr durch
ihre Anwesenheit verunreinigt werde.
Die Verschlimmerung der Lage
in der Türkei führte im 18. Jahrhundert zur Gründung einer Kolonie der
türkischen Juden in *Wien, da diese in *Österreich ein Privilegium
besaßen; so zogen es viele Juden der Türkei vor, sich in Österreich unter
türkischem Protektorat anzusiedeln, statt in der Türkei wohnen zu bleiben.
Im 16. Jahrhundert. war die
Türkei das Zentrum der *Kabbala, der Vorläuferin des *Chassidismus. Die
Werke Josef *Karos, Isaak *Lurja’s,
Chajim *Vital’s
machten tiefen Eindruck auf die jüdischen Massen. Salomon *Molcho, David *Reubeni
u. a. traten als «Propheten», «Könige der Juden»
und mit ähnlichen Ansprüchen auf; aber die größte Bewegung rief das
Auftreten *Sabbatai Zwi’s
hervor, die fast die ganze Türkei ergriff und auch in Europa Widerhall
fand. Die Bewegung endete mit der Bekehrung Sabbatai Zwi’s
zum Islam, seine Schüler bildeten eine kleine Sekte, die *«Dönmeh’s»,
die noch heute besteht. Diese messianische Bewegung war das größte
Ereignis im Geistesleben der türkischen Juden. Später begann das geistige
Leben zu stagnieren, um erst im 19. Jahrhundert unter anderen Formen wieder
zu erwachen.
Das 19. Jahrhundert bringt
die gesetzliche Gleichberechtigung der türkischen Juden.
1839 und 1856 wurde ihnen
gewährt: Gleichheit vor dem Gesetze, Sicherheit von Leben, Ehre und Besitz,
freie Ausübung des Kultus, Gründung von Gemeinden, Zulassung zu
Verwaltungsposten, Reorganisation der Steuern und der Gerichtsbarkeit,
allgemeine Wehrpflicht.
Diese Grundsätze wurden
durch die jungtürkische Verfassung von 1908 feierlich wiederholt und
festgelegt, sind aber nie voll zur Durchführung gelangt.
Die jüdischen Gemeinden der
Türkei befanden sich im 19. Jahrhundert, namentlich in der Provinz und ganz
besonders in *Palästina, in großer Armut und geistigem Tiefstand. Die
jüdischen Philanthropen *Montefiore
und *Rothschild taten
ihr Möglichstes, um die Lage der Juden in Palästina zu verbessern, und die
*Alliance Israélite Universelle erwarb sich große Verdienste
um die Hebung der allgemeinen Kultur der Juden in der Türkei. Dank ihrer
Arbeit erhielten die türkischen Städte Schulen, in denen sich die
jüdischen Kinder europäische Kultur aneignen konnten und auch in
verschiedenen Handwerken und Fertigkeiten unterwiesen wurden. Durch
gleichzeitige Aufnahme mohammedanischer Schüler arbeitete die Alliance auf
die Stärkung der freundschaftlichen Beziehungen zwischen beiden
Gemeinschaften hin, und tatsächlich sind viele Jungtürken, die ihren
Unterricht an den Schulen der Alliance genossen haben, späterhin auf hohen
Posten treue Freunde der Juden geblieben.
Der *Weltkrieg hat
Palästina von der Türkei losgelöst, und die Geschichte der
palästinensischen Juden geht nun ihren eigenen nationalen Weg.
Die im Lausanner Vertrag
festgelegten *Minderheitsrechte sind in der Türkei nicht zur Durchführung
gelangt. Die von der Regierung Kemal Paschas betriebene systematische
Türkisierung führte dazu, dass die Minderheiten, darunter auch die Juden,
sich veranlasst sahen, auf die ihnen durch diesen Vertrag eingeräumten
Minderheitsrechte zu verzichten, da den Juden in der neuen Türkei angeblich
keine Schwierigleiten bereitet wurden. Tatsächlich begann seitdem ein fast
ungehemmter Assimilationsprozess. In den jüdischen Schulen wurde das
Hebräische verdrängt, der Unterricht wurde fast ganz türkisiert, die
Inspektoren zwangen die Kinder, sogar in den Pausen türkisch zu sprechen,
Aufführungen von Theaterstücken in spaniolischer Sprache wurden untersagt
(in deutscher, französischer und englischer Sprache aber zugelassen), die
Zionistische Organisation wurde verboten usw.
Die türkische Juden-Politik
hat teilweise antisemitischen Charakter, wie die Verdrängung der Juden aus
den Militär- und Verwaltungsstellen, dann auch der Prozess gegen den
Mörder des jüdischen Mädchens Else Niego,
der freigesprochen wurde, beweisen. Auch die jüdischen religiöse Autonomie
wurde aufgehoben, und die Rechte des Oberrabbiners wurden beschränkt. Die
wirtschaftlichen Folgen der Verlegung der Hauptstadt nach Angora
(d.h. Ankara) trafen in erster Reihe die dortigen Juden.
-
Im übrigen siehe die Artikel: Bagdad, Konstantinopel,
Minderheitsrechte;
-
über die Gemeindeverhältnisse siehe Artikel: Gemeinde, Bd.
II, Sp. 999.
Um
1908 lebten nach Ruppin (Die Zahl der Juden in der Türkei, in ZDStJ, Okt.
1908) in der europäischen Türkei an 150.000 Juden (= 2,7% der
Gesamtbevölkerung), in der asiatischen an 210.000 Juden (=1,1%) in Tripolis
12.000, im ganzen ca. 375.000; in Konstantinopel etwa 60.000,
darunter 7 – 8.000 Aschkenasim.
Im 18. Jahrhundert
erschienen dank der Entwicklung des Buchdrucks und des Verlagswesens eine
große Reihe wissenschaftlicher Werke in Übersetzungen. Von
Originalverfassern sind zu nennen: Jacob Kuli,
Verfasser eines Bibelkommentars, Abraham Toledo,
Verfasser des «Copias de Joseph», eines anonymen Gedichts, das Leben
*Josefs in der Bibel darstellend.
Im 19. Jahrhundert
befassten sich die jüdischen Gelehrten neben den Talmudstudien bereits mit
weltlichen Wissenschaften, ohne es jedoch zu Originalwerken zu bringen;
vielmehr besteht die jüdisch-türkische Kultur in der Hauptsache aus
Übersetzungen.
1846 erschien in Smyrna die
erste Zeitung in spaniolischer Sprache: »Puerta del Oriente«
(Pforte des Ostens); jedoch konnte sich das Zeitungswesen nicht sehr
entwickeln. Von den fast 30 Zeitungen, die in hebräischer, französischer
und spanischer Sprache erschienen, hatten die meisten nur eine kurze
Lebensdauer. (Nähere Angaben über
frühere und heutige jüdischen Zeitungen in der Türkei siehe im Artikel:
Presse, XIV und XXXV.)
Heute gibt es nicht eine große jüdischen Zeitung in der Türkei; Gabbaj
und David *Fresco bemühten sich sehr um die Hebung des jüdischen
*Journalismus, hatten aber keinen nachhaltigen Erfolg. Jüdische Literatur
und Wissenschaft sind in vollem Verfall.
Lit.:
I. Loch:La situation des Israélites en Turquie;
P. Baudin:Les Israélites du Constantinople (Bulletin de All. Israel.);
M. Franco:Essai sur l'Histoire des Israélites de l'Empire Ottoman;
V. Cuiner:La Turquie d'Asie; Rosaues: Diwre jeme jisrael betogarma, 1-3,
1907-13, Bd. 1: 1930 (2); Dubnow
(Reg.). M. J.Gg.
(aus: Jüdisches Lexikon, Band IV/2, S – Z, Berlin
1927)