KONSTANTINOPEL
(türkisch: Istanbul), bis 1920 Hauptstadt, seit 1926 zweite Hauptstadt der Türkei.

1. Geschichte

Juden wohnen seit der römischen Zeit in Konstantinopel Sie werden zum erstenmal im Jahre 390 erwähnt. Ihre Lage war unter den *byzantinischen Kaisern äußerst schlecht; seit, Kaiser Theodosius II. mussten sie in einem besonderen Viertel (Stenum, jetzt Pera) wohnen, wurden grausam verfolgt und an der Ausübung ihres Kultes gehindert. Kaiser Justinian I. (527-565) verbot ihnen, das *Pessachfest vor dem Osterfest zu feiern. Kaiser Heraklius I. (610-641) versuchte, nachdem er in einem Kriege mit Persien bereits die Juden in Palästina grausam verfolgt hatte, alle Juden seines Reiches zur Annahme des Christentums zu zwingen. Die Juden in Konstantinopel wurden hiervor jedoch durch das Dazwischentreten der Kaiserin geschützt. Noch schlimmer wurde die Lage der Juden unter der Herrschaft der Bilderstürmer, die sie zwangen, entweder das Christentum anzunehmen oder auszuwandern. Trotzdem zog die für den Handel so günstige geographische Lage Konstantinopels die Juden immer wieder an, und unter Leo VI. (886-911) wurde Konstantinopel ein Zentrum des Judentums. *Benjamin von Tudela fand daher 1176 in Konstantinopel wieder eine größere jüdische Gemeinde vor; er berichtet, dass 2000 Juden in Konstantinopel lebten, von denen einige sehr reich waren.
In der byzantinischen Zeit war die jüdische Gemeinde Konstantinopel wiederholt Sitz großer jüdischer Gelehrsamkeit. Insbesondere blühte hier das Studium der *Karäer, und der Kampf zwischen diesen und den *Rabbaniten brachte manche literarische Produktion hervor. Seit dem 16. Jahrhundert wurde diese in Konstantinopel bes. durch die dort entstehenden hebräischen *Druckereien gefördert.

Nachdem Konstantinopel 1453 an die Türkei gefallen war, begann sich die dortige jüdische Bevölkerung durch starke Zuwanderung von *Aschkenasim und italienischen Juden und bes. durch den Zuzug aus Spanien und *Portugal (nach der großen Austreibung 1492) schnell zu vermehren, so dass 1574 Konstantinopel etwa 30.000 jüdische Seelen beherbergte. Jede Gruppe lebte getrennt, hatte ihre eigene Synagoge und behielt Sitten und Trachten ihrer Heimat bei; die führende Stellung behaupteten aber die »Sephardim«.

Die Juden, die in einem besonderen Viertel «Haskyöy» wohnten, gelangten allmählich zu solchem Reichtum, dass der Sultan Murad III. im 17. Jahrhundert Maßregeln gegen ihren Luxus ergriff. Ihre Hauptberufe waren Handel, Kleingewerbe und Handwerk. 

Bedeutende jüdische Persönlichkeiten wie Donna Gracia *Mendesia, *Josef Nassi, Salomon *Aschkenasi suchten auch das geistige Niveau der Juden zu heben. Es gab große Gelehrte und Schriftsteller unter ihnen, aber die breite Masse blieb unwissend, da die Zustände in der Türkei einer höheren Kulturentwicklung ungünstig waren. 

Im 17. Jahrhundert trat durch das Auftreten des Pseudomessias *Sabbatai Zwi in der Lageder Juden eine Wendung zum Schlechten ein. Die Unruhe, die durch die sabbatianische Bewegung unter den Juden in Konstantinopel hervorgerufen wurde, erweckte beim Sultan den Verdacht, dass es sich um eine politische Aktion gegen das türkische Reich handle. Sie führte außerdem zu einem wirtschaftlichen Niedergang der jüdischen Bevölkerung Konstantinopels, da diese ihre wirtschaftliche Tätigkeit vernachlässigte und bald von den Griechen und Armeniern in der Stadt überflügelt wurde. Hinzu kamen dauernde Drangsalierungen durch fanatische Moslems, die die Janitscharen auf das jüdische Viertel der Stadt hetzten. So begann ein allgemeiner Verfall der jüdischen Gemeinde in Konstantinopel, der unaufhaltsam bis ins 19. Jahrhundert fortdauerte, obwohl einige führende jüdische Familien und Einzelpersonen ihm von Zeit zu Zeit Einhalt zu gebieten versuchten. Eine weitere Ursache für den Verfall bildete auch der innere Kampf zwischen weltlichen und geistlichen Elementen im Judentum.

Die weltlichen Kulturträger begegneten dem Widerstand der fanatischen Rabbinern; so musste der bekannte jüdische Philanthrop Graf Abraham de *Camondo, der viel für das Gedeihen des Volkes tat, sogar Konstantinopel verlassen, weil er gegen die fanatischen Rabbiner, bes. gegen Isaak Akrisch, nicht aufkommen konnte. Dieser innere Zwiespalt schwächte die Gemeinde moralisch und materiell, während sie überdies gegen einen äußeren Feind zu kämpfen hatte. 

Namentlich die Griechen suchten ihre Konkurrenten, die Juden zu verleumden, und Ritualmordprozesse (s. Blutbeschuldigung) waren an der Tagesordnung, bes. folgenschwer die in den Jahren 1861-74 (der letzte Prozess mit dem Beinamen: Balata-Affäre). Dazu kamen noch 1872 und 1874 furchtbare Feuersbrünste, 1875 die Cholera, die den völligen Ruin der jüdischen Massen in Konstantinopel herbeiführten. Die *Alliance Israélite Universelle tat zwar viel zur Hebung des moralischen Tiefstandes, aber sie vermochte das kulturelle Leben nicht wieder zu erwecken.

Lit.:

Hertzberg: Geschichte der Byzantiner unter dem Osmanischen Reich, 1883; Baudin:Les Juifs à Constantinople, 1878; Rosanes:Diwre jeme Israel betogarma, 1-111, 1907 ff.; S. P. Rabinowitz: Moza’e gola, 1894. 

M.G.Hz.

2. Gegenwart

Die Zeit der Jahrhundertwende und die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts standen in der Türkei im Zeichen des immer stärker werdenden Einflusses der europäischen Großmächte, der nicht ohne günstigen Einfluss auf die Lage der nationalen Minderheiten, insbesondere der Juden im Bereiche Konstantinopels, blieb.
1908 brachte der jungtürkische Staatsstreich den Juden die definitive *Emanzipation.

Der Balkankrieg und auch der Weltkrieg fand einen großen Teil der türkischen Juden wie aller anderen ottomanischen Untertanen an den Fronten. Der Abschluss des Weltkrieges brachte der jüdischen Gemeinde Konstantinopel einen starken Zuwachs durch die im revolutionierten Russland einsetzende Emigration, die die jüdische Bevölkerung Konstantinopels bis auf 90.000 Köpfe anwachsen ließ.

Während der Besetzung Konstantinopels durch die alliierten Mächte fasste, durch die englische Politik begünstigt, der *Zionismus in der jüdischen Gemeinde Fuß und breitete sich auch in den bis dahin ziemlich uninteressierten Schichten der Bevölkerung schnell aus. Diese zuerst rasch wachsende Bewegung verlor sich jedoch ebenso schnell wieder im Sande, als nach der Wiedereinnahme Konstantinopels durch die türkischen Nationaltruppen die Kemalistische Regierung daran ging, die frühere Hauptstadt allen aus dem Ausland kommenden Einflüssen zu entziehen. Diese Tendenz der türkischen Innenpolitik kam späterhin, trotz der Bestimmungen des Lausanner Vertrages, als klar erkennbarer Zug der türkischen Minoritätenpolitik zum Durchbruch, ihr fielen die bewährten Schulen der *Alliance Israélite Universelle zum Opfer, ihr erlagen schließlich auch die meisten anderen vom Ausland aus erhaltenen jüdische Institutionen.

Die Politik der Regierung Kemal Paschas blieb nicht ohne einschneidende Wirkung auf die jüdische Bevölkerung des Landes. Obwohl nicht ausgesprochen juden-feindlich, sondern gegen alle auf dem Boden der türkischen Republik ansässigen Minderheiten gerichtet, traf sie doch am schwersten die jüdische Bevölkerung, insbes. die der Stadt Konstantinopel, die, hauptsächlich im Handel, Bankwesen und in den freien Berufen tätig, besonders stark unter der fortschreitenden planmäßigen Türkisierung des öffentlichen Lebens zu leiden hat.

Durch den Verzicht auf die im Lausanner Vertrag festgelegten *Minoritätenrechte ist den Juden überdies das Recht der Beschwerde an den Völkerbund genommen. Alle diese Umstände tragen zu einem steten Anwachsen der schon durch die schwere wirtschaftliche Krisis bedingten Abwanderung der jüdischen Bevölkerung nach dem Auslande bei.

Konstantinopel dürfte heute nicht mehr als 35.000 Juden zählen. Das früher sehr rege gesellschaftliche und intellektuelle Leben der jüdischen Gemeinde Konstantinopels ist am Verlöschen. Von den früher zahlreichen jüdische Zeitungen erscheint heute nur noch das in spaniolischer Sprache erscheinende Blatt «EI Tiempo».

M.R. G

(aus: Jüdisches Lexikon, Band III, Ib – Ma, Berlin 1927)