Nachdem Konstantinopel 1453 an die Türkei gefallen war, begann sich die dortige jüdische Bevölkerung durch starke Zuwanderung von *Aschkenasim und italienischen Juden und bes. durch den Zuzug aus Spanien und *Portugal (nach der großen Austreibung 1492) schnell zu vermehren, so dass 1574 Konstantinopel etwa 30.000 jüdische Seelen beherbergte. Jede Gruppe lebte getrennt, hatte ihre eigene Synagoge und behielt Sitten und Trachten ihrer Heimat bei; die führende Stellung behaupteten aber die »Sephardim«.
Die Juden, die in einem besonderen Viertel «Haskyöy» wohnten, gelangten allmählich zu
solchem Reichtum, dass der Sultan Murad
III. im 17. Jahrhundert Maßregeln
gegen ihren Luxus ergriff. Ihre Hauptberufe waren Handel, Kleingewerbe und
Handwerk.
Bedeutende
jüdische Persönlichkeiten wie Donna Gracia *Mendesia,
*Josef Nassi, Salomon *Aschkenasi
suchten auch das geistige Niveau der Juden zu heben. Es gab große Gelehrte
und Schriftsteller unter ihnen, aber die breite Masse blieb unwissend, da die
Zustände in der Türkei einer höheren Kulturentwicklung ungünstig
waren.
Im 17. Jahrhundert
trat durch das Auftreten des Pseudomessias *Sabbatai Zwi in der Lageder
Juden eine Wendung zum Schlechten ein. Die Unruhe, die durch die
sabbatianische Bewegung unter den Juden in Konstantinopel hervorgerufen wurde,
erweckte beim Sultan den Verdacht, dass es sich um eine politische Aktion
gegen das türkische Reich handle. Sie führte außerdem zu einem
wirtschaftlichen Niedergang der jüdischen Bevölkerung Konstantinopels, da
diese ihre wirtschaftliche Tätigkeit vernachlässigte und bald von den
Griechen und Armeniern in der Stadt überflügelt wurde. Hinzu kamen dauernde
Drangsalierungen durch fanatische Moslems, die die Janitscharen auf das
jüdische Viertel der Stadt hetzten. So begann ein allgemeiner Verfall der
jüdischen Gemeinde in Konstantinopel, der unaufhaltsam bis ins 19.
Jahrhundert fortdauerte, obwohl einige führende jüdische Familien und
Einzelpersonen ihm von Zeit zu Zeit Einhalt zu gebieten versuchten. Eine
weitere Ursache für den Verfall bildete auch der innere Kampf zwischen
weltlichen und geistlichen Elementen im Judentum.
Die weltlichen
Kulturträger begegneten dem Widerstand der fanatischen Rabbinern; so musste
der bekannte jüdische Philanthrop Graf Abraham de *Camondo, der viel für das Gedeihen des Volkes tat,
sogar Konstantinopel verlassen, weil er gegen die fanatischen Rabbiner, bes.
gegen Isaak Akrisch,
nicht aufkommen konnte. Dieser innere Zwiespalt schwächte die Gemeinde
moralisch und materiell, während sie überdies gegen einen äußeren Feind zu
kämpfen hatte.
Namentlich die Griechen suchten ihre Konkurrenten, die Juden zu verleumden, und Ritualmordprozesse (s. Blutbeschuldigung) waren an der Tagesordnung, bes. folgenschwer die in den Jahren 1861-74 (der letzte Prozess mit dem Beinamen: Balata-Affäre). Dazu kamen noch 1872 und 1874 furchtbare Feuersbrünste, 1875 die Cholera, die den völligen Ruin der jüdischen Massen in Konstantinopel herbeiführten. Die *Alliance Israélite Universelle tat zwar viel zur Hebung des moralischen Tiefstandes, aber sie vermochte das kulturelle Leben nicht wieder zu erwecken.
Lit.:
Hertzberg:
Geschichte der Byzantiner unter dem Osmanischen Reich, 1883; Baudin:Les
Juifs à Constantinople, 1878; Rosanes:Diwre
jeme Israel betogarma, 1-111, 1907 ff.; S. P. Rabinowitz:
Moza’e gola, 1894.
M.G.Hz.
Der Balkankrieg und auch der Weltkrieg fand einen großen Teil der türkischen Juden wie aller anderen ottomanischen Untertanen an den Fronten. Der Abschluss des Weltkrieges brachte der jüdischen Gemeinde Konstantinopel einen starken Zuwachs durch die im revolutionierten Russland einsetzende Emigration, die die jüdische Bevölkerung Konstantinopels bis auf 90.000 Köpfe anwachsen ließ.
Während der Besetzung Konstantinopels durch die alliierten Mächte fasste, durch die englische Politik begünstigt, der *Zionismus in der jüdischen Gemeinde Fuß und breitete sich auch in den bis dahin ziemlich uninteressierten Schichten der Bevölkerung schnell aus. Diese zuerst rasch wachsende Bewegung verlor sich jedoch ebenso schnell wieder im Sande, als nach der Wiedereinnahme Konstantinopels durch die türkischen Nationaltruppen die Kemalistische Regierung daran ging, die frühere Hauptstadt allen aus dem Ausland kommenden Einflüssen zu entziehen. Diese Tendenz der türkischen Innenpolitik kam späterhin, trotz der Bestimmungen des Lausanner Vertrages, als klar erkennbarer Zug der türkischen Minoritätenpolitik zum Durchbruch, ihr fielen die bewährten Schulen der *Alliance Israélite Universelle zum Opfer, ihr erlagen schließlich auch die meisten anderen vom Ausland aus erhaltenen jüdische Institutionen.
Die Politik der Regierung Kemal Paschas blieb nicht ohne einschneidende Wirkung auf die jüdische Bevölkerung des Landes. Obwohl nicht ausgesprochen juden-feindlich, sondern gegen alle auf dem Boden der türkischen Republik ansässigen Minderheiten gerichtet, traf sie doch am schwersten die jüdische Bevölkerung, insbes. die der Stadt Konstantinopel, die, hauptsächlich im Handel, Bankwesen und in den freien Berufen tätig, besonders stark unter der fortschreitenden planmäßigen Türkisierung des öffentlichen Lebens zu leiden hat.
Durch den Verzicht auf die im Lausanner Vertrag festgelegten *Minoritätenrechte ist den Juden überdies das Recht der Beschwerde an den Völkerbund genommen. Alle diese Umstände tragen zu einem steten Anwachsen der schon durch die schwere wirtschaftliche Krisis bedingten Abwanderung der jüdischen Bevölkerung nach dem Auslande bei.
Konstantinopel dürfte heute nicht mehr als 35.000 Juden zählen. Das früher sehr rege gesellschaftliche und intellektuelle Leben der jüdischen Gemeinde Konstantinopels ist am Verlöschen. Von den früher zahlreichen jüdische Zeitungen erscheint heute nur noch das in spaniolischer Sprache erscheinende Blatt «EI Tiempo».
M.R. G
(aus: Jüdisches Lexikon, Band III, Ib – Ma, Berlin
1927)