17. Kapitel

 

Trotzki über die Ziele der Moskauer Prozesse



Bei seiner Analyse der Ursachen für die Moskauer Prozesse lehnte es Trotzki ab, zur Erklärung ausschließlich persönliche Motive heranzuziehen. Er stimmte zu, daß derartige Motive in der politischen Psychologie Stalins immer eine wichtige Rolle spielten, betonte aber, daß sich Stalin bei der Organisierung einer so großangelegten Aktion wie der großen Säuberung von ernsthaften politischen Überlegungen leiten ließ, in denen es einen individuellen und einen sozialen Aspekt zu unterscheiden gelte.

Der individuelle hing vor allem zusammen mit Stalins Furcht, es könnten Terrorakte gegen ihn organisiert werden. Wie sehr Stalin von dieser Angst erfaßt war, zeigen insbesondere die Erinnerungen des Admirals Isakow. Er berichtet, wie ihm Stalin bald nach der Ermordung Kirows von den diensthabenden Offizieren erzählte, die in allen Gängen im Kreml standen und natürlich mehrfach von den »Organen« überprüft worden waren: »Du gehst jedesmal durch den Korridor und denkst: wer von ihnen? Wenn es der ist, dann wird er dir in den Rücken schießen, und wenn du um die Ecke biegst, wird dir der nächste ins Gesicht schießen.«

Diese Überlegungen allein konnten jedoch nicht ausschlaggebend sein bei Stalins Inszenierung des ungeheuerlichen Autodafés, dem Millionen Menschen zum Opfer fielen. Ebenso haltlos war die Version, die diese Repressalien gegen die »Trotzkisten« und die Fortsetzung des Kampfes durch Trotzki mit persönlicher Feindschaft zwischen Stalin und Trotzki erklärte. Diese Version der reaktionären Presse aus den dreißiger Jahren ist in jüngster Zeit von den russischen »Demokraten« wiederbelebt worden. So wiederholt Wolkogonow, indem er den Kampf der linken Opposition gegen den Stalinismus mit der gleichen Elle wie das Gezänk zwischen Gorbatschow und Jelzin mißt, mehrfach, Trotzkis »absolute Ablehnung des Stalinismus« erkläre sich aus seinem persönlichen Haß auf Stalin.

Dabei hatte Trotzki doch bereits 1937 hinreichend überzeugende Argumente vorgebracht, die diese Version widerlegen. Er nannte es oberflächlich, dumm und geradezu absurd, wollte man den Kampf der Opposition gegen den bürokratischen Absolutismus auf den Kampf um die persönliche Macht zwischen Stalin und Trotzki zurückführen, und betrachtete dieses Problem nicht aus der Sicht Stalins, sondern aus der Sicht von Stalins zahlreichen Gegnern aus den Reihen der linken Opposition. »Viele Zehntausende sogenannter ›Trotzkisten‹«, schrieb er, »wurden in den letzten dreizehn Jahren in der UdSSR grausam verfolgt, den Familien, den Freunden, der Arbeit entrissen, des Feuers, des Wassers und – nicht selten – des Lebens beraubt, und das alles wirklich wegen des persönlichen Kampfes zwischen Trotzki und Stalin?«

Eines der Hauptmotive, das Stalin veranlaßte, die Moskauer Prozesse zu organisieren, war das Bestreben, Trotzki aus der politischen Arena zu vertreiben. »Wenn Stalin die Kainsarbeit in bezug auf Sinowjew, Kamenew und die anderen auf sich genommen hat, so nicht, weil er deren Tod als solchen brauchte... Die Leichen Sinowjews und Kamenews waren für Stalin vor allem Stufen, die zu Trotzki führten.« Zu einer solchen Stufe wurden auch die Hauptangeklagten des zweiten Prozesses, Radek und Pjatakow, die im Unterschied zu den Führern der Sinowjewschen Opposition, die nach 1927 in der Politik weit nach hinten gedrängt wurden, von Stalin näher an die Schalthebel der Macht gebracht worden waren. Pjatakow und Radek »waren treue Werkzeuge in den Händen Stalins, der sie sehr schätzte, weil sie klüger und gebildeter als alle seine engsten Mitarbeiter waren. Aber er hatte keine anderen namhaften, bekannten Ex-Trotzkisten, die er hätte für einen neuen Vorzeigeprozeß einsetzen können. Er war gezwungen, Pjatakow und Radek zu opfern.«

Zwischen der Abrechnung mit den »Ex-Trotzkisten« und der politischen Diskreditierung Trotzkis bestand ein wechselseitiger Zusammenhang. »Stalin mußte Dutzende seiner ehemaligen Genossen opfern, um die phantasieentsprungene Figur des konterrevolutionären Erzverschwörers Trotzki zu schaffen. Und anschließend benutzte er diese Figur, um mit all seinen Gegnern abzurechnen.«
Diese »Dialektik der Fälschung« erwuchs aus der Furcht Stalins vor dem ansteigenden Einfluß Trotzkis im Ausland und der zunehmenden oppositionellen, »trotzkistischen« Stimmung in der UdSSR. In beiden Fällen ließ sich Stalin nicht nur von seinem persönlichen Haß auf »entwaffnete« und »nicht entwaffnete« Funktionäre der linken Opposition leiten, von denen er in der Vergangenheit nicht wenige niederschmetternde ideologische Schläge hatte einstecken müssen, sondern in erster Linie von den Interessen des Klassenkampfes, des politischen Kampfes. Der große Terror und sein unabdingbarer Bestandteil – die Schauprozesse gegen die ehemaligen Führer der Opposition – hatten tiefreichende soziale und politische Ursachen.

Die erste und wichtigste dieser Ursachen und dementsprechend auch der Ziele Stalins resultierte aus den unversöhnlichen Gegensätzen der sozialen Interessen. Diese Widersprüche, die das gesamte Leben der Sowjetunion zerrissen, waren darauf zurückzuführen, daß eine »neue privilegierte Schicht« entstanden war, »die, gierig nach der Macht, gierig nach den Gütern des Lebens, Angst hat um ihre Positionen, Angst vor den Massen – und jegliche Opposition tödlich haßt«. Diese Schicht verwandelte das Sowjetregime in eine bürokratische Tyrannei. Das Ergebnis dieser Degeneration des politischen Regimes war eine Veränderung der sozialen Struktur der Gesellschaft und der Macht, die in Widerspruch zu den Zielen der Oktoberrevolution geriet. Diese Ziele hatten darin bestanden, »eine Gesellschaft ohne Klassen zu errichten, das heißt ohne Privilegierte und ohne Übervorteilte. Eine solche Gesellschaft bedarf keiner staatlichen Gewalt. Die Gründer des Regimes hatten vorausgesetzt, daß alle gesellschaftlichen Funktionen vermittels der Selbstverwaltung der Bürger ausgeführt werden sollen, ohne professionelle Bürokratie, die sich über die Gesellschaft erhebt.« In der Realität entwickelte sich die sowjetische Gesellschaft jedoch genau entgegengesetzt: Die Bürokratie usurpierte die Macht des Volkes, konzentrierte in ihren Händen die Verfügung über allen Reichtum des Landes und teilte sich Privilegien zu, die von Jahr zu Jahr wuchsen.

Bereits in den ersten Phasen dieses Prozesses stieß die Bürokratie auf den Widerstand der linken Opposition (nach Stalins Terminologie – der »Trotzkisten«), der einzigen politischen Kraft im Land, die ein Programm besaß, das die Interessen der Volksmassen zum Ausdruck brachte. Mit zunehmender thermidorianischer Degeneration des Regimes ließ die reale Wirklichkeit immer mehr die offizielle Lüge erkennen und bestätigte, daß die Kritik und das Programm der Opposition richtig waren. Das zwang die Bürokratie, um den Anschein ihrer Unfehlbarkeit zu wahren, zu immer schärferen Formen des Kampfes gegen die Opposition zu greifen. Zunächst entfernte man die Oppositionellen aus verantwortungsvollen Ämtern und schloß sie aus der Partei aus, danach begann man ihnen jegliche Arbeit zu nehmen und sie in die Verbannung zu schicken.
Man verbreitete immer giftigere Verleumdungen über sie. »In allen entlarvenden Artikeln gegen den ›Trotzkismus‹ ist niemals ein ehrliches Zitat, wie in allen Prozessen gegen ihn kein einziger Sachbeweis ist.«

Zu Stalins Gehilfen in diesem Kampf wurden allmählich die Kapitulanten, die mit der Opposition gebrochen und sich in professionelle falsche Zeugen gegen die Opposition und gegen sich selbst verwandelt hatten. In allen Erklärungen der Kapitulanten wird, beginnend mit 1929, unverändert Trotzki als Hauptfeind der UdSSR genannt, ohne dieses hatte ein Reuebekenntnis keine Kraft. 
Zuerst war die Rede von »Abweichungen« Trotzkis in Richtung Sozialdemokratie; in der darauffolgenden Etappe von »objektiven« konterrevolutionären Folgen seiner Tätigkeit; anschließend von seinem Bündnis mit der Weltbourgeoisie gegen die UdSSR. Diese Verleumdungskampagnen gingen logischerweise damit zu Ende, daß man Trotzki zuschrieb, er wolle nicht nur die Partei spalten, sondern auch die Armee zersetzen, die Sowjetmacht stürzen und den Kapitalismus wiederherstellen. Um diese Beschuldigungen in den Augen der Sowjetmenschen und der Weltöffentlichkeit überzeugend wirken zu lassen, war es erforderlich, in den Gerichtsprozessen namhafte ehemalige Oppositionellen als Ankläger gegen Trotzki vorzuführen.

Das Hauptmittel zur Ausrottung des »Trotzkismus« vor diesen Prozessen waren Parteisäuberungen, bei denen als »Trotzkisten« nicht nur unzufriedene Arbeiter bezeichnet wurden, sondern auch alle jene Wissenschaftler und Publizisten, die gewissenhaft historische Tatsachen und Zitate anführten, die der offiziellen Lüge widersprachen. Infolgedessen wurde die geistige Atmosphäre des Landes durch und durch vom Gift des Betrugs, der Heuchelei und der direkten ideologischen und historischen Fälschungen durchtränkt. Die Fälschungen der Theorie und Geschichte des Bolschewismus, die immer plumper wurden, erfüllten ihren Zweck nicht – die Diskreditierung Trotzkis und des »Trotzkismus« im Bewußtsein der Massen. »Man mußte den bürokratischen Repressalien eine massivere Begründung geben. Den literarischen Falsifikationen kamen Beschuldigungen kriminellen Charakters zu Hilfe.«

Sowohl die ideologischen als auch die gerichtlichen Fälschungen ergaben sich notwendigerweise aus der Lage der regierenden Kaste, die »falsch [ist] von Grund auf: sie ist gezwungen, ihre Privilegien zu verheimlichen, vor dem Volke zu lügen, mit kommunistischen Formeln Beziehungen und Handlungen zu verschleiern, die mit Kommunismus nichts gemein haben. Der bürokratische Apparat erlaubt niemand, die Dinge beim Namen zu nennen. Im Gegenteil, er verlangt von allen und von jedem einzelnen den Gebrauch der vereinbarten ›kommunistischen‹ Sprache, die dazu dient, die Wahrheit zu verhüllen... Die Zwangslüge durchdringt die gesamte offizielle Ideologie.
Menschen denken das eine und sprechen und schreiben ein anderes. Da die Kluft zwischen Wort und Tat immer mehr wächst, müssen die heiligsten Formeln fast jedes Jahr revidiert werden... Unter der Knute der Bürokratie verrichten Tausende von Menschen eine systematische Arbeit ›wissenschaftlicher‹ Fälschung. Jeder Versuch einer Kritik oder eines Widerspruches, ja der geringste Ton eines Widerspruches, wird als das schwerste Verbrechen betrachtet.«

Wie sich der Leser leicht überzeugen kann, charakterisiert das Gesagte das geistige, ideologische Klima der Sowjetgesellschaft nicht nur in der Zeit des Stalinismus, sondern auch in den darauffolgenden Jahren – allerdings mit zwei wesentlichen Ausnahmen. Zum einen wurde nach Stalins Tod das Strafmaß für abweichendes Denken erheblich gesenkt. Zum anderen nahmen die oppositionellen Stimmungen in der poststalinschen Zeit – mit fortschreitender Entwicklung in immer größerem Maße – vorwiegend antikommunistischen Charakter an. Dabei besaßen die Träger solcher Stimmungen kein deutlich formuliertes, ganzheitliches Programm für die Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Im Gegensatz dazu waren in den dreißiger Jahren die Traditionen und Ideale der Oktoberrevolution noch lebendig. Diese unausgelöschten Traditionen bedrohten die Existenz der Bürokratie, die Angst hatte vor den Massen, die ihre wahre Stärke und Tatkraft in den Jahren der Revolution und des Bürgerkrieges gezeigt hatten.

In einem Land, wo die Lava der sozialistischen Revolution noch nicht erkaltet war, mußte zur Aufrechterhaltung der vom Stalinismus hervorgebrachten sozialen, politischen und ideologischen Verhältnisse, die noch sehr labil waren, die kommunistische Opposition vernichtet werden. Die regierende Kaste jedoch, die ihre eigennützigen sozialen Interessen mit dem Schutzbanner des Bolschewismus verschleierte, durfte »die Opposition nicht für ihre wirklichen Gedanken und Taten bestrafen: die ununterbrochenen Repressionen sollen ja gerade verhindern, daß die Massen das wahre Programm des ›Trotzkismus‹ erfahren, das vor allem eine größere Gleichheit und mehr Freiheit für die Massen fordert«. Die Bürokratie hat es nicht gewagt, ihre blutigen Repressalien gegen die Unzufriedenen und Kritischen damit zu rechtfertigen, daß diese die Beseitigung ihrer Allmacht und ihrer Privilegien verlangten. »Die Oppositionellen zu beschuldigen, sie übten Kritik an der Selbstherrlichkeit der Bürokratie, hätte bedeutet, den Oppositionellen Hilfe zu leisten. Es blieb nichts anderes übrig, als ihnen Verbrechen anzuhängen, die sich nicht gegen die Privilegien der neuen Aristokratie, sondern gegen die Interessen des Volkes richten. 
An jeder neuen Etappe nahmen diese Beschuldigungen immer ungeheuerlicheren Charakter an. 
So sieht die gesamtpolitische Situation und die gesellschaftliche Psychologie aus, welche die Moskauer Gerichts-Phantasmagorie möglich gemacht hat.«

Natürlich waren in den dreißiger Jahren im Land auch oppositionelle Elemente verblieben, die eine antikommunistische Einstellung vertraten und bereit waren, bei günstiger Gelegenheit den Kampf gegen den Stalinismus »von rechts« zu führen, und sei es auch um den Preis einer Zusammenarbeit mit den faschistischen Eindringlingen. Daß es noch solche Elemente gab, trat in den Jahren des Zweiten Weltkriegs deutlich zutage. Aber gegen diese potentiellen Mitglieder einer »fünften Kolonne« war die Speerspitze des großen Terrors nicht gerichtet. Dafür wendete Stalin im Kampf gegen seine gefährlichsten politischen Gegner aus den Reihen der Leninschen Bolschewiki in großem Umfang seine Lieblingsmethode an, das politische Amalgam, welches die Gegner »von links« und »von rechts« gleichsetzt und ersteren Absichten zuschreibt, die charakteristisch für letztere sind. Hier trifft sich seine politische »Methodologie« mit der Methodologie Hitlers, der mit dem ihm eigenen prahlerischen Zynismus einmal eines der »Hauptgeheimnisse« seiner politischen Strategie ausplauderte: »Es gehört zur Genialität eines großen Führers, selbst auseinanderliegende Gegner immer als nur zu einer Kategorie gehörend erscheinen zu lassen, weil die Erkenntnis verschiedener Feinde bei schwächlichen und unsicheren
Charakteren nur zu leicht zum Anfang des Zweifels am eigenen Recht führt.«

Selbstverständlich finden wir bei Stalin, der zu politischer Mimikry greifen mußte und deshalb in seinen politischen Äußerungen weit weniger aufrichtig ist als Hitler, nichts, was Ähnlichkeit mit diesen Aussagen hätte. In seiner politischen Praxis jedoch übernahm er de facto das von Hitler formulierte Prinzip, das, wie Trotzki betonte, »der marxistischen Politik wie auch jeder wissenschaftlichen Erkenntnis direkt entgegengesetzt [ist], denn die letztere beginnt mit der Zergliederung, der Gegenüberstellung, der Aufdeckung nicht nur der hauptsächlichen Unterschiede, sondern auch der Übergangsnuancen. Insbesondere hatte sich der Marxismus stets der Behandlung aller politischen Gegner als ›einer reaktionären Masse‹ widersetzt.« Stalin aber wendete bei der ideologischen Begründung seines Terrors Methoden nicht der marxistischen, sondern der faschistischen Agitation. Der Unterschied zwischen diesen Methoden war, Trotzkis Worten zufolge, »der Unterschied zwischen wissenschaftlicher Erziehung und demagogischer Hypnotisierung. Die Methode der Stalinschen Politik, die ihren vollendetsten Ausdruck in den Prozeßfälschungen gefunden hat, entspricht vollständig Hitlers Rezept, läßt es aber dem Schwunge nach weit zurück. Alle, die sich vor der regierenden Moskauer Clique nicht beugen, sind von nun an ›eine faschistische Masse‹.«

Damit zeigte Trotzki, daß die Stalinschen Verbrechen die einzige für Stalin zugängliche Methode des politischen Kampfes waren. Die falschen Beschuldigungen gegen die Opposition, die ihre Kulmination in den Sensationsprozessen erreichten, dienten als Mittel zur Niederhaltung des im Volk angestauten sozialen Protestes gegen die wachsende Ungleichheit und politische Rechtlosigkeit der Massen.

»Wenn die Stalinisten uns ›Verräter‹ nennen«, schrieb Trotzki, »so klingt darin nicht nur Haß, sondern auch eine eigenartige Aufrichtigkeit. Sie meinen, wir hätten die Interessen der heiligen Kaste... verraten, die angeblich allein fähig ist, den ›Sozialismus aufzubauen‹, die aber in Wirklichkeit die Idee des Sozialismus kompromittiert. Wir unsererseits halten die Stalinisten für Verräter an den Interessen der russischen Volksmassen und des Weltproletariats. Es ist sinnlos, diesen erbitterten Kampf mit persönlichen Motiven zu erklären. Es handelt sich nicht nur um verschiedene Programme, sondern um verschiedene soziale Interessen, die immer feindlicher aufeinanderstoßen.«

Das Hauptziel der Moskauer Prozesse bestand darin, die Bedingungen zu schaffen für eine politische Diskreditierung und physische Vernichtung der gesamten kommunistischen Opposition, um das Volk zu enthaupten, ihm für viele Jahre seine politische Avantgarde zu nehmen und damit auch die Fähigkeit, dem totalitären Regime eine Abfuhr zu erteilen. Der Klassenkampf in der UdSSR hatte im Prinzip seine schärfste Form angenommen – er war zum Bürgerkrieg geworden. 
Dieser Bürgerkrieg wies, im Unterschied zum Bürgerkrieg von 1918–1920, die spezifische Form des Staatsterrors auf, der darauf gerichtet war, zu verhindern, daß die Massen politisch in Erscheinung traten. »In den Massen sind zweifellos die Traditionen der Oktoberrevolution lebendig«, schrieb Trotzki. »Die Feindschaft gegenüber der Bürokratie wächst. Aber die Arbeiter und Bauern, sogar wenn sie formal der sogenannten Partei angehören, haben keinerlei Kanäle und Hebel, um Einfluß auf die Politik des Landes zu nehmen. Die heutigen Prozesse, Verhaftungen, Vertreibungen, gerichtlichen und nichtgerichtlichen Repressalien sind eine Form des präventiven Bürgerkrieges, den die Bourgeoisie insgesamt gegen die Werktätigen führt.«

Eine wichtige Besonderheit dieses Bürgerkrieges bestand darin, daß er, entgegen Stalins Absichten, unvermeidlich zu einem zahlenmäßigen Anwachsen seiner Gegner innerhalb des Landes führte. Als Resultat der Vergeltungsmaßnahmen gegen offenkundig unschuldige Menschen, gegen die Erbauer der bolschewistischen Partei, gab es weitaus mehr solche Gegner, als Stalin angenommen hatte. Diese Vergeltungsmaßnahmen mußten »in den Reihen der Bürokratie selbst ein Schaudern hervorrufen«. Man konnte die zentrifugalen Tendenzen innerhalb der regierenden Schicht, in der nicht wenige Menschen subjektiv immer noch den kommunistischen Idealen ergeben waren, nur überwinden, indem man den Hauptteil dieser Schicht vernichtete. Deshalb mündete der große Terror in einen Kampf, den der »konsequenteste bonapartistische Flügel der Bürokratie gegen deren übrige weniger festen oder weniger zuverlässigen Gruppen führt«.

Das Ausmaß des von Stalin entfesselten präventiven Bürgerkriegs war bedingt durch die Kraft der Ideen und der Traditionen der Oktoberrevolution, die nicht nur unter den Volksmassen, sondern auch unter den Parteiapparatschiks, Wirtschaftsleuten, Heerführern usw. lebendig geblieben waren. Um diese in der Geschichte einmalige Kraft zu überwinden, brauchte man einen in Ausmaß und Grausamkeit genauso einmaligen großen Staatsterror. Dieser Terror wurde möglich und zeigte Wirkung, weil er äußerlich nicht in seiner wahren konterrevolutionären Gestalt auftrat, sondern als soziale Mimikry, unter der Maske, er wolle die Errungenschaften der Oktoberrevolution verteidigen. Das Stalinsche bonapartistische Regime konnte sich nur mit Hilfe der miteinander untrennbar in Zusammenhang stehenden Repressionen und Fälschungen halten.
Diese Fälschungen – philosophische, historische, politische, literarische – bildeten den »unvermeidlichen ideologischen Überbau über dem materiellen Fundament der durch die neue Aristokratie vollzogenen Usurpation der Staatsmacht und der Ausnutzung der Errungenschaften der Revolution durch sie«. Sie mußten notwendigerweise durch Gerichtsfälschungen gekrönt werden, wie es sie in der Geschichte noch nie gegeben hatte. Ein Nebenziel dieser Fälschungen war das Bestreben der regierenden Clique und des hinter ihr stehenden niederträchtigsten und gemeinsten Teiles der Bürokratie, »alle ökonomischen Mißerfolge, Fehlentscheidungen, Disproportionen, Entwendungen und andere Unregelmäßigkeiten auf die Trotzkisten abzuwälzen, die jetzt in der UdSSR Punkt für Punkt die gleiche Rolle spielen wie Juden und Kommunisten in Deutschland«.

Ein anderes wichtiges Ziel der Moskauer Prozesse trug außenpolitischen Charakter. Für die Stalinsche Clique war es notwendig, daß Millionen Menschen in der ganzen Welt die Sowjetunion mit ihr identifizierten. »Die moralische Autorität der Führer der Bürokratie und vor allem Stalins hält sich in großem Maße auf dem Babylonischen Turm von Verleumdungen und Fälschungen... Dieser Babylonische Turm, der seine Erbauer selbst schreckt, hält sich... außerhalb der UdSSR – mit Hilfe des gigantischen Apparates, der auf Kosten der sowjetrussischen Arbeiter und Bauern die öffentliche Weltmeinung mit Mikroben der Lüge, Fälschung und Erpressung vergiftet.« Dieser Apparat der Komintern, durch und durch demoralisiert, konnte nur so lange Einfluß unter den Massen haben, wie diese ihn mit der revolutionären Arbeiterbewegung identifizierten. Der offensichtliche Bankrott der Komintern, deren Strategie ihre Unzulänglichkeit bei jeder revolutionären Krise zutage treten ließ, schuf Raum für eine neue Internationale. »Wenn Stalin Angst hat vor dem kleinen ›Bulletin der Opposition‹ und seine Einfuhr in die UdSSR mit Erschießungen bestraft, dann ist es nicht schwer zu begreifen, welche Furcht die Bürokratie davor hat, daß in die UdSSR Nachrichten dringen könnten über die aufopferungsvolle Arbeit der Vierten Internationale... Deshalb ist es für Stalin eine Frage auf Tod und Leben: die Vierte Internationale im Keime totzuschlagen!«