Archiv zur Dokumentation Jüdischer Kultur und Geschichte

Documentary-Archive of Jewish Art and History

 

 

 

Einführung zur Jüdischen Geschichte:

Der Chassidismus - The Chassidism

 

 

Teil II

Die Entfaltung des Chassidismus

von Chaim FRANK, © 2001

 

Nach anfänglichen Kämpfen vor allem gegen den herkömmlichen Rabbinismus, gelang den Chassidim allmählich die Selbstbehauptung und Anerkennung.

 

Der Chassidismus entstand - wie im I. Teil schon erwähnt - in Podolien (Süd-Ukraine) und setzte sehr bald in Polen, Galizien, Litauen, Bessarabien, Rumänien und anderen osteuropäischen Ländern, als herrschende Form jüdischer Frömmigkeit durch. Und seine Anhängerschaft, die Chassidim eben, waren in allen in allen Schichten und Berufen zu finden.

 

 

Nun erhebt sich endlich die Frage: Was ist der Chassidismus?

 

Der Chassidismus bestand zunächst in der Neuerweckung eines gar alle Stufen umspannendes Daseinsgefühl – nämlich von den Höhen der Ekstase bis hinunter in die gewöhnliche Alltäglichkeit des äußersten Lebens.

In diesem Zusammenhang steht auch das Element einer tiefen, nach außen sich offenbarenden und besonders die Askese allgemein ablehnende G’Tes-Freudigkeit.

Denn jeder Jude hat seinen Alltag mit Hingabe und Freude zu erfüllen, und er sollte darin dem >Oijberschten< (also G‘T, dem Schöpfer aller Lebewesen und Schönheit der Natur) für seine Wohltaten – und natürlich auch seine Prüfungen – in tiefer Dankbarkeit loben.

Der Chassidismus entwuchs - so gesehen - also aus einer tiefen Sehnsucht, bei der die Menschen das wesentliche Gefühl genießen wollten, >G‘Tes-Geschöpfe< zu sein. Und auch die Mühen des täglichen Lebens sollte (und wollte) man ins besondere durch die verinnerlichte Hingabe zu G‘T vergessen.

Denn der Tenor dieser Ansicht war und, was uns heute leider längst abhanden gekommen ist: Wer die Traurigkeit und Sorgen über sich gewinnen lässt, der errichtet höchstens eine Barriere zwischen sich und G‘T; ... und, wer unbewusst gesündigt hat kann jederzeit umkehren.

Weil ewiges Lamentieren, oder schlechtes Gewissen, hindern einem geradezu nur daran, es hinkünftig besser machen zu können.

Diese Freude hat ihre Wurzel vor allem in jener inneren Begeisterung (Hitlahavut), die nur aus einer tiefen religiösen Ergriffenheit und Überzeugung möglich ist. Sie kann sich in gewisser Ekstase sogar bis hin zur völligen Entrückung (Bitul ha-Jesch = Absonderung) steigern. Denn für die Chassidim ist die Verwirklichung des wahrhaft religiösen Lebens wichtiger als alles andere, vor allem das Null und Nichtige, das Nichts-Sagende ‘irdische Glück‘, der Wohlstand, Besitz und der gleichen.

Das Wahrhafte steht in den heiligen Büchern Moses, in der Tora und darüber hinaus natürlich auch im Talmud. Die Gesetze zu verstehen und zu befolgen; d.h. danach zu leben. Dies bedeutet aber auch unentwegt zu studieren, zu lernen, ergo es selbst zu empfangen (kibel) und danach weiterzugeben, an seine Nachkommen oder in entsprechenden Jeschivot den Talmidim zu lehren!

Und so vollzog sich hier, was den früheren Kabbalisten im allgemeinen fern lag: die unmittelbare Durchdringung des jüdischen Volkslebens mit dem tiefen Gehalt mystisch-religiösen Empfindens.

Dies zeigt sich vor allem in der Tatsache der frühen chassidischen Bewegung (oder gerade darin), daß ihre Begründer und viele späteren Meister weniger Gelehrte (im herkömmlichen Sinne), dafür aber aufrichtig fromme Männer des Volkes waren, so dass sie vom Anfang an im Volke breite Wurzel fassen konnten.

So entstand schließlich aus dieser Basis heraus (und dies ganz eigenständig) auch die volkstümliche Literatur der Chassidim, die zu Beginn noch ausschließlich in hebräischer doch wenig später und schon ziemlich breit gefächert in jiddischer Sprache und (für damalige Zeit) in hoher Auflage erschien.

 

In neuerer Zeit ist es vor allem Martin BUBER zu danken, der die klassischen chassidischen Geschichten und Erzählungen neu aufgriff und sie vorurteilslos selbst dem assimilierten deutschsprachigen Leser näher brachte.

Als Zentralgestalt solcher chassidischen Erzählungen steht zumeist (quasi als ’Wächter über Tora und Talmud‘) immer einer der großen ZADDIKIM (Gerechten) oder WUNDER-REBBEN.

Solche Zaddikim wurden förmlich von Anhängern und Schülern umlagert, denn ein jeder braver Chassid besuchte wenigstens einmal jährlich seinen Meister, um Rat und Hilfe für oft schwerwiegende Seelen- und Lebensfragen zu empfangen. Dann war es zumeist ein fast heiliges Erlebnis, bei der dritten Schabbat-Mahlzeit (Schalosch Se‘udot) Tora-Zitate aus dem Munde des großen Zaddik zu vernehmen, die er später - mit glänzenden Augen - seinen Leuten zu Hause übermittelte.

Die mit Liebe erfüllte Beziehung zu allem Lebendigen erweckt im Chassid natürlich auch ein neues, freudvolles Empfinden selbst für die äußere Natur, also dem Nebensächlichen. Hinzu kommt noch das Element des NIGGUN, des Gesanges, der – obwohl die Motive teilweise der osteuropäischen Kultur entlehnt sind –, aus einer G‘T-Innigkeit und religiöser Euphorie entsprang und dies gilt auch für den charakteristischen religiösen Tanz (z.B. bei Festen wie Simchat Tora) einer chassidischen Gemeinschaft, wo das tiefe G’T-Erleben ekstatisch zum Ausdruck gebracht wird.

 

Das wesentlichste an der Chassidismus-Bewegung war also zunächst die endgültige Aufhebung religiöser Wertunterschiede zu erreichen, (nämlich zwischen dem rabbinischem Funktionärs’tum, also Macht der Gelehrten und dem einfachen Volk), und im Anschluss daran - und das war vielleicht sogar das Wichtigste überhaupt (!) dass nämlich jeder fromme Jude, egal welchem Stande und Berufe er angehörte, mittels der Kraft seiner aufrichtigen Gläubigkeit ebenfalls die Stufe eines Gerechten, also die eines Zaddiks !!, erreichen konnte.

Und solche Zaddikim hatten nicht selten ein mächtiges und gar weitreichendes Wort. Vielen von ihnen wurde sogar - auch mittels zugesprochenen Beweisen - eine besondere Kraft von Wundertaten nachgesagt; nun, man findet die beweise hierzu in unzähligen Legenden und Erzählungen der Chassidim wieder.

Dass es hier - vor allem wenn es um die eifrige Anhängerschaft der sogenannte ZADDIK-DYNASTIEN ging, von denen nicht selten der ’Personen Kult‘ ausging und andrerseits die Wundertaten gewissermaßen vom Vater auf den Sohn übertragen werden konnte, dass es hier zu Auswüchsen kam - muss hier nicht sonderlich erst betont werden. Das gab und gibt es, hat aber nichts mit dem tieferen Sinn des Chassidismus zu tun - sondern eher mit einer übersteigenden Heroisierung eines Meisters durch seine Schüler.

(Doch Vorsicht: Nicht der Meister behauptet von sich der potentielle Maschiach zu sein - sondern seine Schüler behaupten dies!!!)

So entstanden seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert einige sehr bedeutende Zaddik-Dynastien, die - trotz vehementer Haskala (also Aufklärertum) vom Westen her - noch über das 19. Jahrhundert fortbestanden, und zwar mit ausgeprägter und gelegentlich sogar prunkvoller Hofhaltung. Nun, so weit ist es aber noch nicht ...

 

Nun, der großen BeSchT, war am ersten Schawuot-Tag 1760 in Miedžybož gestorben und hinterließ einen Sohn >Zevi Hirsch< und eine Tochter namens >Hodel< (Abk. von Hadassa). Da der Sohn aber weniger geeignet war seine Stelle, als Führer der Chassidim zu übernehmen, beschloß der Ba’al Schem-Tov kurz vor seinem Ableben seinen fleißigen Schüler, den Prediger Dov Bär aus Meseritsch dieses Amt zu übernehmen.

 

Noch zu Lebzeiten des großen Zaddik, waren in den meisten Städten Podoliens, Wolhyniens und Galiziens einige Gruppen von Chassidim entstanden. Wobei es schwer zu ermitteln blieb, wie groß die Gesamtzahl der Anhängerschaft gewesen war. Einige >Insider< meinen etwa zwischen 30 und 40.000, was gewiss etwas zu hoch gegriffen sein mag.

Miedžybož geriet nach dem Tode des BeSchT, gewissermaßen in Vergessenheit – die neue >Hauptstadt< der Chassidim hieß nun aber Meseritsch! (... sie wurde also von Podolien nach Wolhynien verlegt)

Und auch der >erste Apostel< des BeSchT, Rabbi Jakob Joseph, verließ seine Stadt Nemirov, um ein Rabbiner-Amt im wolhynischen Polonoje zu übernehmen. Auch diese Verlegung zog weitreichende Folgen mit sich, nämlich dass auch der nördliche Teil des Landes, also Litauen und Belorussland endlich ebenfalls in den Bannkreis des Chassidismus gelangte.

 

Dov Bär, der Nachfolger, stammte aus einem kleinen wolhynischen Schtetl, wo er 1710 geboren wurde. Er studierte Talmud und Tora, befasste sich eingehend mit der Kabbala und gab daneben in etlichen Schtetln und Dörfern kleinen Kindern Anfangsunterricht. Doch das befriedigte ihn nicht zu sehr und so wandte er sich später seiner Berufung zu: er wurde ein Maggid, ein Wanderprediger). In seinen Predigen bezog er sich ausschließlich auf asketische Moral, Buße und Umkehr – und hielt sich selber ebenso an die strengen Gebote (vor allem an die Belehrung der lurjanischen Kabbala und dem System des Ari) und der Kasteiung. Er fastete von Schabbeß zu Schabbeß und gab sich inbrünstig dem Torastudium hin. Schließlich erkrankte er nicht nur physisch sondern auch psychisch, worauf er den Rat befolgte zum berühmten BeSchT zu fahren um sich dank seiner Heilkunst kurieren zu lassen. So begegnete er zum ersten mal den Ba’al Schem-Tov, der übrigens ein ausgezeichnetes Mittel gegen seine Leiden fand: Er klärte nämlich den Kranken Dov Bär darüber auf, dass die wahre G’Tes-Fürchtigkeit weniger in der Selbstquälerei und im Trübsinn liegt, sondern in der freudigen Dankbarkeit und erhabenen Stimmung.

Diesen Rat befolgte er und so wurde der Dov Bär zu einem ausgezeichneten Gelehrten, der alsbald eine große Zahl von Torakundigen, Rabbiner und Kabbalisten in seinen Bann zu ziehen verstand. Der Maggid verstand es auch junge Menschen massig zu gewinnen, ihnen Halt und Kraft zu geben, jene vor allem die durch Schicksalsschläge gerüttelt kein befriedigendes leben mehr fanden. Dem Meseritscher Maggid, Dov Bär, wurde nachgesagt er verfüge über zwei Kronen: über die der Lehre und die der Heiligkeit.

 

Vom Historiker Simon Dubnow erfahren wir:

»Zu seinem Schülerkreis gehörten Männer, die in der Folge zu hohem Ruhm gelangen sollten: die Ukrainer Levi Isaak Berditschewer, Nachum Tschernobyler, Se’ev Wolf von Schitomir; die Galizier Elimelech von Lisensk und Michel von Zloczow; die Söhne Litauens und Weißrußlands Aaron von Karlin, Mendel von Witebsk, Abraham von Kolusk und der jüngste in dieser Gemeinschaft, Schneur Salman von Ljosna.

Die meisten von ihnen sollten in der nächsten Epoche zu anerkannten Häuptern der Chassidim werden, doch gab es auch solche in diesem Jüngerkreis, die sich von der neuen Lehre lediglich in der Theorie, nicht aber in der Praxis leiten ließen, wie etwa die Brüder Pinchas und Schmelke Hurwitz, die in reiferen Jahren von den großen ausländischen Gemeinden Frankfurt am Main und Nikolsburg in Mähren als Rabbiner gewählt wurden. Von diesen beiden Schülern sagte einmal der Maggid: >Ich fand eine Kiste voller Kerzen, die jedoch nicht brannten. Sobald ich aber einen Funken Feuer in ihre Nähe brachte, da entzündeten sie sich alle auf einmal, und im Nu wurde es unvergleichlich heller<.«

 

Über Dov Bär gibt es etliche Anekdoten, einige davon finden sich im Buch von Chaim Bloch »Chassidische Geschichte«

 

Die Einfältigen: Unter den Jüngern des Maggid waren einige Einfältige. Diese liebten den Lehrer gar sehr und waren ihm anhänglich über die Maßen, wenn sie auch seine tiefen Gedanken nicht erfassen konnten. Der Maggid liebte sie um so mehr, weil sie mit ihren Herzen an ihm hingen, ohne dass der Verstand daran Teil hatte.

 

Das Herz: Bei einem Mahle, da die Chassidim um ihn waren und man ihm das Mahl in goldenen Geräten darreichte, sprach er: »Ihr wähnt, es sei gut und leicht, ein Zaddik, ein Rabbi zu sein? Glaubt mir, es ist schwer und mühselig. Denn wisset, das Herz des wahren Zaddik schwebt immerfort im Blute der Welt und wird von Leid und Sorge des Einzelnen überflutet.«

Er schwieg eine Weile. Dann sprach er: »Ich gönne allen Bösewichtern, dass sie Zaddikim werden« und lachte dabei.

 

Leib und Seele: Als Rabbi Schmelke von Nikolsburg und sein Bruder Rabbi Pinchas vom Maggid heimkehrten, sagte ihr Vater: »Kinder, sprecht wahrhaft, was habt Ihr dort gelernt und empfangen?« Sie erwiderten: »Nur das eine. Früher haben wir unseren Leib gepeinigt, denn wir wähnten, er sei der Kern, die Seele hingegen bloß seine Hülle. In Meseritsch erfuhren wir das Gegenteil: die Seele ist der Kern, der Leib aber bloß ihre Schale.«

 

Die Mahlzeit: Ein reicher Chassid kam zu ihm, um seinen Segen zu empfangen.

»Wie ist«, fragte der Maggid, »Deine Lebensweise, welche Gerichte kommen Tag für Tag auf Deinen Tisch?«

»Meine Lebensweise«, sagte der Chassid, »ist bescheiden; mein Mahl besteht aus trockenem Brot mit Salz.«

Der Maggid sah ihn grimmig an und fragte: »Warum gönnst Du Dir nicht Fleisch und Wein, wie es sich für einen Reichen ziemt?« Er setzte dem Manne lange mit herben Worten zu; jener versprach, sein Mahl werde künftig aus Fleisch und Wein bestehen.

Als der Chassid weggegangen war, fragten die Schüler den Maggid: »Was liegt daran, ob der Mann Brot mit Salz oder Fleisch mit Wein zum Mahl hat.«

Er antwortete: »Es liegt viel daran! Wenn er ein Wohlleben führte und sein Mahl aus Fleisch und Wein bestünde, dann würde er verstehen, dass der arme Mann wenigstens trocknes Brot mit Salz haben muss. Wenn er aber selbst allen Genüssen des Lebens entsagt und so kärglich lebt, so wähnt er, dass der Arme Steine zu essen vermöge!«

 

Der dürre Baum: Einst kamen mehrere Chassidim und bedrängten ihn gar sehr, ein jeder mit seinem Verlangen. Alle raubten sie ihm die Zeit, die er gewöhnlich mit Lernen und Beten verbrachte.

Da sprach er zu ihnen: »David, der König, nennt den Zaddik eine Palme. Wenn Ihr mir nicht die Zeit lasst, um mich der Thora widmen zu können – dann werdet ihr keine Palme, sondern bloß einen dürren Baum vor Euch haben.«

Seither hüteten sich die Chassidim, den Lehrer in außergewöhnlichen Stunden zu bedrängen.

 

***

 

Während der Zeit, als Dov Bär, der Maggid zu Meseritsch, neue Lehrer des Chassidismus ausbildete, die später auszogen, um überall in Polen, Weißrussland, Ukraine und im Zarenreich eigene Gruppen zu bilden, machte sich unterdessen Rabbi Jakob Josef ha-Kohen in Polonoje daran, die Worte des großen BeSchT in eine >schriftliche Lehre< umzuwandeln. Somit gilt er auch als erster Schriftsteller des Chassidismus!

Über Jakob Josephs Geburt und Herkunft ist nur sehr wenig bekannt. Sicher ist nur, dass er Rabbi zu Schargorod, und ein bedeutender Talmudist gewesen war. Rabbi Jakob Joseph, ist in seinen frühen Jahren sogar ein entschiedener Gegner der chassidischen Lehre gewesen, ehe er – wie es Dubnow treffend ausdrückte – dem >Zauberer von Miedžybož< begegnete. Fortan unternahm der Rabbi etliche Reisen zum BeSchT, um sich in die »Höhe der neuen religiösen Auffassung emporzuheben«.

Dies hatte natürlich ein Nachspiel mit sich gezogen. Innerhalb der Schargoroder Gemeinde entbrannte eine Fehde zwischen den Gegnern und den Befürwortern des Rabbi Jakob Josephs, was zur Folge hatte, dass seine siegreichen Feinde ihn samt seinen Anhängern – und noch dazu an einem Freitag – zur Stadt hinausgejagt haben. Über diese Begebenheit und dem Fluch, der aus dem Hause des BeSchT über Schargorod kam, ranken sich zahlreiche Legenden.

 

Zwischen 1784 und 1752 finden wir Jakob Joseph als Rabbiner zunächst im podolischen Schtetl Raschkov, wo ihn aber ebenfalls alsbald der Unwillen der Gegner des Chassidismus trifft, und er abermals den Platz räumen musste. Danach wirkte er von 1752-1770 in Nemirov. In dieser Stadt wütete bereits 1648 Chmjelnicki mit seinen Horden, und auch 1768 kam es immer wieder zu Schlächtereien durch die Haidamaken, die streckenweise etliche Gemeinden in Podolien und ukrainischen Provinzen zerstörten. In den Gegenden wüteten auch noch so manche Räuber und primitive Schlägertypen, so dass sich Rabbi Jakob Joseph gezwungen sah den Ort zu wechseln, und nach Polonoje zu ziehen, wo er fortan bis zu seinem Tode, in Jahre 1782 residierte.

Rabbi Jakob Joseph, vertrat noch in Nemirov – wie seinerzeit der Maggid Dov Bär – eine überaus strenge asketische Haltung, die ihn ebenso dazu brachte, dass er sich schließlich kaum noch bewegen konnte.

 

Hier folgen wir wieder der Geschichte von Simon Dubnow: (Zitat)

Als der BeSchT davon erfuhr, begab er sich eiligst nach Nemirow und befahl dem Rabbiner, von den asketischen Übungen Abstand zu nehmen. Zur Bestätigung dieses Berichtes fügte sein Urheber in die >Legende des BeSchT< einen Brief ein (»Schibche ha-BeSchT«, fol. 8 d.), dessen Rückseite mit der Anschrift versehen war:

 

>Aus Miedžybož nach Nemirow ... an den Rabbiner Herrn Jakob Joseph Kohen<, und der folgendermaßen lautet:

>Zu Händen des Geliebten meiner Seele, des Rabbiners ... des durch seine Frömmigkeit berühmten Joseph Kohen. Eure teuren Schriftzüge habe ich erhalten und daraus ersehen ... daß Eure Hochwürden behaupten, unbedingt fasten zu müssen, und ich erzitterte, als ich dies vernahm. So verfüge ich denn ergänzend im Namen der Engel und unter Anrufung Gottes und seiner Herrlichkeit, Ihr sollet Euch ja nicht solcher Gefahr aussetzen, weil so was nur zu Schwermut und Trübsinn führt, die Schechina aber nicht dem Trübsinn, sondern der heiteren Frömmigkeit innewohnt, wie dies Euer Hochwürden aus meinen vielfach wiederholten Lehrworten bekannt ist. ... Dies ist nun mein Rat, und möge Gott mit Euch sein: Morgen für Morgen möget Ihr Euch beim Lernen voll und ganz an die Buchstaben (der Thora) anschmiegen, um des Dienstes am Schöpfer willen, und alsdann wird die Wurzel der Strenge versüßt werden ... Fern sei es Euch aber, mehr als geboten und nötig zu fasten ... Von mir, dem um Euer Wohl stets besorgten Israel BeSchT<.

 

Als Gemeinderabbiner pflegte Jakob Joseph nach dem herkömmlichen Brauche öffentlich nur zweimal im Jahre zu predigen, am Großen Sabbat (dem letzten vor Passah) und am Sabbat der Umkehr (dem letzten vor dem Versöhnungstag) 

[Predigten dieser Art sind in dem Buche »Ben porath Joseph« zu finden, und zwar vielfach mit Angabe des Datums: vorgetragen am Sabbat der Umkehr des Jahres 1760, 1761, 1767, am Großen Sabbat der Jahre 1765—1767 (vgl. s. 211-243, der Petrikauer Ausgabe von 1883).];

Die eigentlichen Grundlagen der chassidischen Lehre trug er aber in dem engeren Kreise seiner Gemeinschaft, wie es auch sonst bei den Chassidim Brauch war, jeden Sabbat-Nachmittag während des Vespermahles vor. Lange Zeit stand er so im Dienste der mündlichen Verbreitung der Lehre des BeSchT, ohne sich dazu entschließen zu können, diese auch in einem Buche darzustellen. Gerade damals brachen über die ukrainische Judenheit schwere Katastrophen herein, deren Nachhall hin und wieder aus der Predigt des Nemirower Rabbiners zu vernehmen ist.

Der Lärm des im Jahre 1772 in Wilna und Brody gegen die Chassidim eröffneten Krieges drang bis nach Polonoje und ließ das Herz des wegen seiner chassidischen Gesinnung von Jugend auf verfolgten Jakob Joseph vor Empörung erbeben. Da trat auch er, der eine gewandte Feder führte, in die Schranken und begann, seine Predigten und Vorträge, die zumeist auf unmittelbar vom BeSchT gehörten Lehren aufgebaut waren, zu einem Buche zu ordnen.

Hierbei schwebte ihm zweierlei vor: erstens wollte er die ihm bekannten Worte seines Meisters, von denen er seinerzeit bei den Besuchen in Miedžybož nur einen Teil flüchtig aufgezeichnet hatte, in ihrer Gesamtheit festhalten und der Allgemeinheit zugänglich machen; zweitens war es ihm aber darum zu tun, das System des Chassidismus in allen Einzelheiten darzulegen und die Mängel des Rabbinismus wie die seiner Repräsentanten in helles Licht zu rücken.

Die meisten der von ihm überlieferten Lehrworte des BeSchT sind in dem Buche »Toldoth Jakob Joseph« zu finden, einer Sammlung von nach der Reihenfolge der Wochenabschnitte des Pentateuch geordneten Predigten, in die die Aussprüche des Stifters des Chassidismus ohne Erwähnung seines Namens, jedoch mit dem Merkzeichen: »Ich hörte von meinem Meister« bzw. »im Namen meines Meisters« eingefügt sind.

Das Buch schließt mit einem Anhang, dessen einleitender Satz also lautet: »Und dies sind die Worte, die ich von meinem Meister seligen Angedenkens gehört und von denen ich aus Furcht sowie meiner Vergesslichkeit halber nur das Wesentlichste aufgezeichnet habe«.

Hieraus ist zu ersehen, dass der Verfasser bei der Wiedergabe der Worte des BeSchT peinlichste Vorsicht walten ließ und gar vieles >aus Furcht<, aus der Befürchtung nämlich, der Ketzerei der Entstellung der überkommenen Lehre verdächtigt zu werden, überhaupt wegließ.

Das umfangreiche Werk »Toldoth Jakob Joseph« ist in der Hauptsache polemisch. Der Verfasser war seinem ganzen Wesen nach ein »Strafprediger«, der in Form von Belehrungen die Führer seiner Zeit zur Rede stellte.

 

In einer Predigt zu dem Abschnitt Balak kommt er immer wieder auf den Ausspruch des Talmud (Ta’anith, 20; Sanhedrin, 105-106) zurück: »Besser der Fluch, den Achia von Silo gegen Israel ausstieß, als der Segen des Frevlers Bileam«, und sucht klarzumachen, dass ein die Gebrechen der Zeit zwecks ihrer Heilung brandmarkender Prediger der wahre Prophet sei, wohingegen diejenigen, die in heuchlerischer Weise den Zeitgenossen schmeichelten, sich als falsche Propheten bloßstellten.

 

Die scharfe Kritik des Rabbiners von Polonoje war durchaus nicht unbegründet. Wie sollte er auch Rabbiner schonen, die sich über die Allgemeinheit hoch erhaben dünkten und sich um die geistigen Bedürfnisse des einfachen Mannes, des >Am ha-Arez<, nicht im geringsten kümmerten. Dieser Umstand bewog ihn, sie mit einem dem „Sohar" entlehnten Ausdruck als „Judenteufel" (Schedin jehudain) und Schädlinge im Weingarten Israels zu bezeichnen.

 

Voller Verachtung spricht der Verfasser von den Gelehrten, »die sich mit dem Pilpul (der Haarspalterei) schmücken, um innerhalb des Gelehrtenstandes Sitz und Stimme zu erlangen«, und wegen dieser Scheinehre miteinander hadern. Aus alledem zog er die folgenden „gefährlichen" Schlüsse: 

 

»Früher glaubte man, daß der Gottesdienst ausschließlich in der Beschäftigung mit der Thora, in Beten, Fasten und Wehklagen bestehe. Als man aber die Erfahrung machte, daß viele Menschen sich damit nicht abgeben wollen, wurden sie (die Gelehrten) zornig, wodurch ein Zorn gegen die ganze Welt heraufbeschworen ward, bis man endlich erkannte, daß dies nur zu dem Zwecke geschehen ist, damit den Menschen ein geraderer Weg gezeigt werde, der Weg der Barmherzigkeit im Dienste am Schöpfer sowie in allen menschlichen Dingen überhaupt ...

Darum soll man sich nicht daran gewöhnen, sich ausschließlich dem Studium zu widmen, sondern auch die Geselligkeit pflegen und auch hierbei die Gottesfurcht im Auge haben, wie es ja geschrieben steht: >Ich habe Gott stets vor Augen< ... Hat man begriffen, daß Gott sämtlichen Stufen einwohnet, dann kann man Seinem heiligen Namen auf allen menschlichen Pfaden dienen und dann wird man auch nicht hoffärtig werden, sondern sie (die einfachen Menschen) günstig beurteilen.«.

 

Auch von Rabbi Jakob Joseph finden sich einige Anekdoten im vielzitierten Buch von Chaim Bloch »Chassidische Geschichte«:

 

Das Beten: Er pflegte zu sagen: »Es ist mir leichter, zehn rabbinische Fragen zu behandeln, als ein einziges Gebet zu verrichten.« Beim Beten bebte er, denn er betete inbrünstig und mit aller Kraft.

*

Rabbi Sussja war in Zolkiew und betete im Bet ha-Midrasch. Er empfand plötzlich eine großes Vergnügen und fühlte die Lauterkeit des Gebetes. Auch kamen ihm Kawwanot des Ba’al Schem in den Sinn. Er erkundigte sich und erfuhr, daß an dieser Stelle einst Rabbi Jakob Josef gebetet hatte.

 

 

Ich: Er hatte einen Gegner, der sich bemühte und beständig darauf sann, wie er ihm ein Leid antun könnte. Als ihm der Gegner wieder einmal großes Unrecht zugefügt, und ihn in Gefahr gebracht hatte, ins Gefängnis zu kommen, verlangten die Jünger, daß er über den Bösewicht den Bann, den »Cherem«, aussprechen solle; er müsse, behaupteten sie, wenn er schon auf die eigene Ehre verzichten wolle, sich der Ehre Gottes und der Thora annehmen.

Schon hatte der Zaddik den Schofar in die Hand genommen und wollte den Cherem verkünden als er sich plötzlich besann. Er sprach zu sich selber: »Sag einmal, Jakob Josef, nimmst du Dich in der Tat nur der Ehre Gottes und der Thora an? Besinne Dich, vielleicht ist es für die Verletzung, die Dir angetan wurde?«

Sprachs, legte den Schofar aus der Hand; der Bann wurde nicht ausgesprochen.

Er hatte die Kraft, sich seines ‚>Ich« ganz zu entäußern.

 

Die Not: Er lebte in großer Armut. Einmal kam sein Weib weinend zu ihm und klagte, es sei im Hause keine Scheibe Brot. Sie sagte: »Du verheißest allen Reichtum und Dein Segen geht in Erfüllung. Nur Dein Weib und Deine Kinder läßt Du in Armut.«

Er seufzte aus der Tiefe seines Herzens. Dann besann er sich und sagte: »Es steht geschrieben: >Und die Armen sollen sein – die Kinder Deines Hauses<.«

Seine Frau verließ beschämt das Kämmerlein.

 

***

 

Die Worte und Predigten des Rabbi Jakob Joseph, als auch die des neuen Propagandisten Israel von Polozk und der anderen >Jünger< der Chassidischen Bewegung blieben nicht ohne Resonanz. 

Die einstigen Schüler kehrten in ihre Städtchen und Dörfer zurück und gründeten dort eigene chassidische Zentren. Unter ihnen waren u.a. Aaron von Karlin, der in Karlin und Pinsk (Weißrussland) ein Zentrum eröffnete, der legendäre Mendel von Witebsk eröffnete dies in seiner Stadt Witebsk und auch in Minsk, und Abraham von Kolusk sowie der überaus bedeutende Schneur Salman von Ljosna (der Begründer der Chabad-Bewegung) taten dies gleichfalls und chassidische Gemeinschaften in weißrussischen Schtetln. Fortan waren sie und ihre Anhänger im Volksmund nur noch unter ihren Ortsnamen bekannt, wie z.B. >Meseritscher<, >Karliner<, oder >Witebsker< usw.

Die Chassidim schieden aus ihren Gemeindesynagogen aus und schufen eigene Betstuben, genauer gesagt >Klausen<, in denen sie sich zur Andacht und zum Studium zurückziehen konnten. Hier fand man sie, die Chassidim, in freudiger Ekstase dem Gott dienend, und hier hörte man ihre feurigen oder auch melancholischen Nigunim singen.

An diesen neu errichteten >Minjanim< (d.h. Zehnerschaft) fanden aber auch zahlreiche Veranstaltungen statt, es diente gleichzeitig der Geselligkeit und fröhlichen Gastmähler. Denn hier sollten nicht nur die Worte der Zaddikim vernommen und fachmännisch diskutiert – sondern vor allem der >Trübsinn bekämpft< werden.

 

Schon lange gärte es in den jüdischen Gemeinden zwischen Litauen und der Ukraine, aber auch darüber hinaus, zwischen den Jahren 1765-1772.

 

Nun war der >Feind< des Rabbinismus inzwischen auch in dessen Hochburg vorgedrungen, nach Wilna, der Hauptstadt Litauens.

Doch hier musste er sich zunächst noch still verbergen, um nicht in den scharfen Augen der gestrengen Gemeindehäupter aufzufallen. Und doch kam es bereits früh schon zu kleinere Sticheleien und Beleidigungen, die alsbald zu einem offen Krieg mit Folgen ausbrechen sollten.

Die schreckliche Seuche des Jahres 1771 brachte Wilna eine schwere Prüfung, der mehrere Hunderte Kleinkinder zum Opfer fielen.

Damals war es üblich, die Gründe weniger in der Ursache, nämlich nach den Hygiene-Bedingungen zu suchen, als vielmehr – wie es die Gemeindehäupter taten – in den jüdischen Häusern >nach Sünden zu forschen<, um die Israeliten zur Buße und Umkehr zu bewegen. Besonders verlangte man nach der Bestrafung der Übeltäter, jene nämlich die angeblich die Gesetze der Tora und die Sittlichkeit, vor allem aber die Gesetzlichkeit des Rabbinismus missachteten.

 

(Zitat Simon Dubnow:)

»Ihre Bemühungen blieben nicht fruchtlos, denn schon bald konnten sie feststellen, >um weswillen das Unheil geschehen< sei: der Allmächtige – so schlossen sie – zürne Israel wegen der Vernachlässigung der Tora und der Abweichung von den religiösen Bräuchen innerhalb der Konventikel, der (geheimen) Zusammenkünfte der Chassidim

Die Häupter der Gemeinde prüften daraufhin die Schriften der Chassidim und nahmen sich einige Führer vor, wie z.B. Rabbi Chaim, der sich einst erdreiste den hohen Gaon Elia zu Wilna, in aller Öffentlichkeit zu erklären, daß er >voll Lüge, dass seine Lehre und sein Glaube Lüge sei<.

Dieser Rabbi Chaim, als auch Rabbi Issar wurden exemplarisch bestraft und mussten als geächtete die Stadt Wilna verlassen.

 

Und überhaupt begann man zunehmend auch die Schriften der Chassidim genauer unter die Lupe zu nehmen, suchte dies und das, und machte selbst aus dem Geringsten eine unendliche Sache.

 

Das Jahr 1772 bedeute jedenfalls nichts gutes: weder für die Chassidim noch für das allgemeine Judentum.

Zwei gravierende Einbrüche waren zu verbuchen: zum einen die immer stärker werdende Oberhand des traditionellen Rabbinentum, die über weite Kreise der Chassidim schreckliche Cherem (Bann) aussprachen, unter Bezugnahme aller Möglichkeiten von Bann-, Ächtungs-, Verdammungs- und Fluch-Formeln; darüber hinaus zahlreiche Schriften und Bücher öffentlich verbrennen ließen; ... und schließlich der politische Moment, die erste Teilung Polens, zwischen Preußen, Österreich und Russland. Diese Teilung löste nicht nur das bisher mehr oder weniger bestandene homogene autonome Ansiedlungsrayon mit seiner Lubliner Gesamtverwaltung auf, sondern zerstückelte es gleichsam in drei Teile.

 

Unter diesem zunehmenden Druck – den politischen Gegebenheiten, mehr aber durch die unzähligen Bannflüche – zogen es einige Chassidim vor, wie z.B. 1777 die Gruppen um Rabbi Mendel von Witebsk und Rabbi Abraham von Kolusk, nach Palästina auszuwandern, in das einstige Zentrum der Kabbala, nach Safed. Aber auch dort sollte sie der Ingrimm ihrer Verfolger nicht verschonen.

Und es begann ein reger Schriftwechsel zwischen dem rabbinischen Zentrum in Wilna, Brody und anderen Städten in Richtung der Rabbiner in Palästina um sie vor den >Missetaten< der chassidischen >Sekte< zu warnen.

Aber auch der Schriftwechsel zwischen den Neueinwanderern und den daheim zurückgebliebenen war nicht minder, die sich in ihren Schreiben darüber beklagten, dass die Kontrahenten sich nicht scheuen, selbst im heiligen Land das Feuer der Zwietracht zu schüren.

Ihre Brüder schrieben ähnliche Klagen zurück, da sie sich unentwegt den Anfeindungen und Bannflüchen ausgesetzt sahen, die nun aus vielerlei Gegenden auf sie niederprasselten. Hinzu kamen auch zahlreiche Verordnungen, die das Leben nicht nur erschwerten sondern fast intim in die Kleiderordnung der Chassidim mischte, Versammlungen untersagte und nicht mehr als 2 Chassidim zum Gottesdienst zuließen – mit der Auflage, dass sie weit von einender sitzen müssten – und auch das gewohnt laute, inbrünstige Beten wurde untersagt ...

Die Kreise um die chassidische Bewegung zog sich immer enger zusammen und traf alsbald das bedeutende weißrussische Triumvirat, dass aus Rabbi Schneur Salman von Ljosna, Israel von Plozok und Issacher Dov von Lubawitschi bestand.

Im weißrussischen Gouvernment Mohilev und Polozk, waren ihre Zentren von wo sie bis hinunter in die südliche Ukraine wirkten.

Seit 1781 sollte nun auch sie der Bann treffen und im Jahre 1784 versammelte sich die rabbinischen Gemeindehäupter in der Stadt Mohilev am Dnjepr, um über die >chassidische Frage< zu richten.

Unter Androhung einer >Brachial-Strafe< falls er sich weigern sollte - wurde Rabbi Schneur Salman zum Erscheinen vor dem Gericht aufgefordert. Dieser aber wusste bereits, was ihm blühen würde, zuviel war schon von anderen Fällen zu ihm vorgedrungen, so dass er es lieber vorzog ein Schreiben anstelle seiner Person zu senden. Es ist noch heute ein erschütterndes Dokument, in Form einer Verteidigung und Gegenanklage, die ich hier auszugsweise Ihnen vorlesen möchte:

 

Dieses hoch bedeutsame, auch heute noch erschütternd wirkende Schreiben vom Jahre 1784, in dem uns das Oberhaupt der Chassidim als Ankläger und Verteidiger in einer Person entgegentritt, hat folgenden Wortlaut:

 

»An die Fürsten und Notabeln des Gouvernements-Kahal in Mohilev ... dem Tagungsort der Versammlungsteilnehmer, die zusammengetreten sind, um Gesetz und Ordnung in Israel zu schaffen ... an die königlichen Häupter und Oberen, die Vertrauensmänner und Führer der dortigen Gemeinde ...‚ der Segen der Gnade, des Lebens und des ungetrübten Friedens walte über ihnen ...

Nachdem ich Euren Würden Wohlergehen gewünscht habe, bin ich bereit, mit Worten unverfälschter Wahrheit volle Aufklärung darüber zu geben ..., warum ich der an mich ergangenen Forderung, vor der Versammlung zu erscheinen, nicht entsprochen habe.

Denn ginge es nur um eine regelrechte Disputation, so hätte man mich zum Versammlungstermin beizeiten einladen müssen, ehe Euer Zorn sich entladen hatte und an alle Kreise durch Eilboten Briefe mit den fürchterlichen Verwarnungen versandt worden waren. Was sollte ich also tun? Hinkommen und gegen das bereits Geschehene protestieren?

Indessen bin ich kein Mann der großen Worte, der den Mund weit auftut und seine Zunge schweifen lässt, daher will ich mich kurz fassen: ... um meine Seele bitte ich, um mein Volk flehe ich, denn wir sind verkauft, ich und mein Volk, und nicht durch Geld, sondern durch Barmherzigkeit und flehentliches Bitten können wir erlöst werden. So legen wir denn Euren heiligen Würden die Bitte zu Füßen, dass man keinen von uns verstoße und von den Grenzen Israels fortweise ...

Auch wenn es wahr sein sollte, dass unser Geschlecht zuchtlos geworden sei, so können wir und unsere Gesinnungsgenossen für diese Sünde um so weniger haftbar gemacht werden ...‚ als auch wir makellose und glaubwürdige Zeugen zu Hunderten und Tausenden zu stellen vermögen ..., die aus eigener Wahrnehmung bestätigen können, dass diese Sünde uns nicht trifft ..., dass wir vielmehr an der schriftlichen und mündlichen Lehre mit aller Kraft und mit unserem ganzen Wesen festhalten, in viel höherem Maße als alle diejenigen, die den obenerwähnten Honoratioren als makellos und glaubwürdig gelten.

Die Entweihung des heiligen Namens geht so weit und die der Thora vor dem ganzen Volke angetane Schmach ist so groß, dass die Erde sie nicht zu fassen vermag! ... Allen, in deren Mitte wir leben, ist es klar, dass das gegen uns gerichtete Gerede auf Missgunst und verletzte Eitelkeit zurückgeht, wobei unsere Verleumder nicht einmal ihre eigene Ansicht aussprechen, sondern sich auf die Meinung anderer, der sogenannten Gemeinde-Ältesten berufen. ...

Was uns ferner mit Staunen erfüllt, ist die Tatsache, dass die Honoratioren der oben erwähnten heiligen Gemeinde die an allen unseren Wohnorten zu Zehntausenden zu findenden Zeugen, die nicht als ‚Chassidim‘ bezeichnet werden, ohne Bedenken verworfen und es unterlassen haben, sie vors Gericht zu zitieren, um sie einem regelrechten Verhör zu unterziehen. Erst nachdem durch die Bekundungen dieser Zeugen ... die Rechtschaffenheit unseres Tuns bekräftigt worden wäre, hätte man das Für und Wider in vollem Umfang gegeneinander abwägen können. Sie (die Richter) begannen jedoch sogleich mit der Anklage, weil sie eben nicht im geringsten daran dachten, uns Gerechtigkeit widerfahren zu lassen ... Auch wenn sich unter uns jemand fände, den irgend eine Schuld trifft, so müsste auch dann nur der Freier der Strafe verfallen, wohingegen wir straffrei ausgehen müssten. Wer aber darf es wagen, von der Ausnahme aus einer Regel auf die Regel selbst zu schließen?

Was schließlich Eure Verwunderung über unser Verhalten, sowohl über die neuerdings gedruckten Bücher als auch über sonstige Dinge ... anlangt, so ist dieses Blatt nicht groß genug, die Lösung all der schwierigen Fragen zu fassen. Darum empfehle ich Eurer geneigten Aufmerksamkeit den folgenden Vorschlag: mögen sich zur Schlichtung unseres Streites brüderlich gesinnte Männer zusammenfinden und, sei es in Eurem oder in unserem Gouvernement oder an einem zwischen diesem und jenem gelegenen Orte, hinsetzen, auserlesene Männer, Kenner des Gesetzes, denen ich jede von mir verlangte Auskunft in fließender Rede erteilen werde ...

Vorerst aber, solange unser Recht noch nicht ans Tageslicht gekommen ist, bitte ich Euch, von Gott gesegnete Männer, kraft Eurer Amtsgewalt an alle Euch unterstellten Kreise eine schriftliche Verfügung ergehen zu lassen, wonach die durch die Maßnahmen der obenerwähnten Honoratioren Geächteten wieder in die Volksgemeinschaft aufgenommen werden sollen.

Wäre nicht die Furcht vor der Staatsgewalt, hätte man uns bei lebendigem Leibe verschlungen. Schon geschehen unter dem Siegel der Verschwiegenheit die ungeheuerlichsten Dinge, alle Bande sind gelöst, und jeder darf ihnen (den Chassidim), als wären sie vogelfrei, nach Belieben das Recht auf die Existenz verkümmern, von der mit Blutvergießen gleichbedeutenden Entehrung ganz zu schweigen ...

Erde, Erde, bedecke nicht unser Blut, und möge seine Stimme nicht ungehört verhallen! Möge Gott im Himmel von der Höhe herabblicken und in den Herzen unserer Brüder in Israel, der barmherzigen Nachkommen barmherziger Väter, Mitleid für uns und unsere unschuldigen Kinder erwecken, auf dass unser Name und Stamm auf der Erdoberfläche erhalten bleibe ... Der Herr des Friedens möge ihnen versöhnliche, freundschaftliche und brüderliche Gefühle für uns eingeben ... Mag dem einen oder anderen (Sektierer) auch ein ungeziemendes Wort entschlüpft sein, so weiß Gott, dass sie nicht mit Überlegung so geredet haben ... Auch ist hierbei der Kummer als ein mildernder Umstand anzurechnen ... Möge also der Allgütige uns vergeben, unsere Bedränger mild stimmen ... und uns alle in Bälde erlösen« ...

Dieses Schreiben zeugt davon - schreibt Dubnow -, in welch großer Gefahr die chassidischen Gemeinschaften in Weißrussland damals schwebten.

Schneur Salman beschwert sich darin über die Härte des von den Gemeinde-Häuptern in Schklow und Mohilew gegen seine Gesinnungsgenossen gefällten Urteils, er beklagt sich über die Grausamkeit des die Sektierer verfolgenden, ihnen alle Erwerbsquellen abgrabenden und sie sowie ihre Führer in rohester Weise verhöhnenden Pöbels, fordert von seinen Widersachern die Einsetzung eines überparteilichen Schiedsgerichts und fleht sie zugleich an, die Verfolgungsmaßnahmen unverzüglich, ohne die endgültige Klärung der Unschuld der Verfolgten erst abzuwarten, rückgängig zu machen. Er fühlt die Kraft in sich, unwiderlegbar zu beweisen, dass der Chassidismus nicht auf die Erschütterung, sondern auf die Befestigung des Heiligtums ausgehe.

Ein Mann wie Schneur Salman, der an Talmudgelehrsamkeit den rabbinischen Größen seiner Zeit keineswegs nachstand und dabei für die magischen Künste des Zaddikismus nichts übrig hatte, war in der Anklage wie in der Verteidigung gleich aufrichtig und hatte allen Grund, die von seinen Feinden gegen ihn erhobene Beschuldigung der „Ketzerei“ weit von sich zu weisen. Wie reagierte nun aber die Mohilewer Versammlung auf die an sie gerichtete Verteidigungsschrift?

Wir besitzen keinerlei Nachricht darüber, dass der Vorschlag des „Angeklagten“, seine Sache einem von beiden Parteien gewählten Schiedsgericht zu unterbreiten, je verwirklicht worden wäre. Gleichwohl scheint es, dass die aus dem Herzen kommenden Worte des Oberhauptes der Chassidim nicht ohne Eindruck auf das Gewissen der geistlichen und weltlichen Führer der Gegenpartei geblieben waren und sie dazu bewogen haben, wenigstens die härtesten der verfügten Maßnahmen aufzuheben, wenn nicht gar die Verfolgungen für eine Zeitlang überhaupt einzustellen.

 

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