Archiv zur Dokumentation Jüdischer Kultur und Geschichte

Documentary-Archive of Jewish Art and History

 

 

 

Einführung zur Jüdischen Geschichte:

Der Chassidismus - The Chassidism

 

 

Teil I

Ursprung und Wesen des Chassidismus

von Chaim FRANK, © 2001

 

Der religiöse Antrieb des Judentums war seit je her in der tiefen Gesetzestreue und in der über Jahrhunderte bewahrten Tradition des jüdischen Glaubens verwurzelt.

 

Simon Dubnow, der große Historiker des traditionellen Judentums und der Geschichte des Chassidismus, schrieb u.a. in seiner Einleitung:

»Aller Glaube wurzelt in den letzten Tiefen der menschlichen Seele, in ihrem Streben nach Erkenntnis ihres Ursprungs und Endziels, nach Einsicht in das Wesen des Seins, nach Vereinigung mit der G'Theit im Fühlen und Denken. Dies ist der psychologische Urquell, aus dem auch der Glaube Israels entsprungen ist

[... Ende des Zitats]

 

Seit biblischer Zeit waltete im Judentum weniger das individuelle Prinzip, sondern die generelle göttliche Vorsehung, und so galt weniger der Einzelne, aber die Gemeinschaft. Das bedeutet aber auch, dass sich im Judentum ein traditionsreicher, aber auch starrer Rabbinismus entwickeln konnte, der damals, seit dem Mittelalter, dem jüdischen Volk weniger den religiösen Glauben als viel mehr seine religiöse Lebensordnung aufdrückte. Die Erschwerung der Gesetze durch den Rabbinismus ging so weit, dass er letztlich mit der >Religion als Freude des Herzens< kaum mehr etwas verband. Die Vorschriften und Anordnungen beispielsweise zur Heiligung des Schabbats gingen teilweise so weit, dass der >heilige Tag der Freude< für den einfache Menschen schlicht zu einem Tag der Qualen wurde.

 

Zu dieser religiösen Bedrückung kam auch noch die tagtägliche Unterdrückung der Juden durch ihre christliche und politische Umwelt. In all dieser Gedrücktheit lag es klar auf der Hand, dass das religiöse Studium alleine nicht mehr genügte, und dass sich dadurch viele in eine geheime Welt flüchteten, in die Lehre der praktischen Kabbala.

 

In diesem Zusammenhang traten in einer durch tragische Schicksale gerüttelten Epoche, etwa seit der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts einige sogenannter >Pseudo-Messias< auf. Hier wären als Beispiel drei zu nennen: nämlich Sabbatai ZWI, Chaim MALACHI und Jacob FRANK, die hierin, geradezu als Scharlatane, ihre traurige Berühmtheit erlangten.

 

Der erstere, Sabbatai Zwi (1626-1676), stammte aus Smyrna (Izmir), wuchs in einer aschkenasischen Familie auf und war bestens mit der talmudischen, rabbinischen und kabbalistischen Literatur vertraut. Vor allem war er, wie viele andere Zeitgenossen, von der lurjanischen Mystik ergriffen, welche die messianische Erwartungen und das Bewusstsein förderte, a) durch asketisches Leben, b) durch Meditation und Wahrung der Gebote (Mizwot) die Ankunft Messias vorbereiten zu können.

Sabbatai Zwi und seine Anhänger glaubten sogar, dass die schrecklichen Chmjelnicki-Pogrome – die in diesen Jahren in Polen und der Ukraine wüteten – nichts anderes seien als die ’Geburtswehen des Messias‘. Mit dieser Ansicht – und nach dem er sich auch noch selbst als Messias erklärte – band er Tausende Juden an sich.

Diese Offenbarung raste wie ein messianische Fieber von Nordafrika bis in jeden Winkel Europas. Viele Familien verkauften, ja verschenkten z.T. ihr Hab und Gut, um nach Palästina auszuwandern wo sie auf die Ankunft des Messias warten wollten. Etwa 200 andere Familien (türkisch Doenmeh = Abtrünnige genannt) traten wie Sabbatai Zwi zum Islam über. Sie ließen sich zwar im Islam unterweisen, befolgten im Geheimen (den 18 Geboten Sabbatais entsprechend) aber weiterhin die jüdischen Riten und beteten in hebräischer Sprache. Erst mit dem Tode Sabbatai Zwi‘s, im Jahre 1676, schien es, als habe der Spuk sein Ende gefunden.

 

Doch dem war nicht so. Noch lange gärte die mystisch-messianische Stimmung in Osteuropa zwischen Podolien und Saloniki, wo (wie es Dubnow schrieb) die »>G'Tsucher< die verwischten Spuren des Messias erneut zu entdecken« versuchten.

Unter diesen fand man auch Chaim MALACHI (Sabbatianer, Ende 17. Jhdt. – nach 1715), der die Lehren Sabbatais weiter verbreitete und gleichzeitig aber mit Jehuda he-Chassid aus Sjedlice, den mystischen Weg des Chassidismus ebnete, mit ihrer >Chewra Chassidim< (Bund der G'Tseligen). Ihre Bekanntheit als auch die Zahl der Mitglieder stieg dermaßen hoch, so dass ihnen das Rabbinentum (aus Angst vor einem Unheil) den Krieg erklärten. Daraufhin brachen Chaim und Jehuda samt ihrer Anhängerschar (um 1700) nach Palästina auf, um dort die vermeidliche Ankunft des Messias erleben zu dürfen. Dieser Zug endete schließlich in einem Fiasko, das obendrein Hunderte von Juden, nachdem auch Jehuda he-Chassid verstarb, in eine Hoffnungslosigkeit und Not – und einige traten, wie ehemals die Sabbatianer, zum Islam über. Ein kleiner Rest, unter Ihnen auch Chaim Malachi, kehrten in ihre Heimat zurück.

 

Trotz dieses Scheiterns trat aber bald wieder ein neuer >Messias<, nämlich Jacub Lejbowicz FRANK (1726-1791) auf. Auch er versuchte mit seiner neuen religiös-mystischen Bewegung, nach dem er sich 1755 als Messias erklärte, mit seiner Anhängerschar, den sogenannten Frankisten, eine größere Masse zu bewegen. Sie waren ebenfalls nichts anderes als eine Sekte im herkömmlichen Sinn, die großes Unheil anrichtete.

Jacub Frank stützte sich einerseits, nachdem er in Saloniki mit dem Sabbatianismus in Berührung kam, auf popularisierte kabbalistische Ideen vor allem der Seelenwanderung, verkündete aber andrerseits eine Lebensfreude und Verbindung mit G‘T, mittels Ausschweifungen und sexueller Ekstase. Mehrmals wurden er und seine Anhänger – wegen der propagierten Häresie (Ketzertum) und ausschweifenden Lebenswandel unter Anklage gestellt, doch jedes Mal gelang im die Flucht. Über Polen und Mähren kam er schließlich ins Hessische Offenbach, wo er 1791 verstarb.

Nach dem Tode übernahm seine Tochter, Eva Frank, die Leitung dieser Sekte und ließ sich fortan als ’weibliche Emanation’ des Messias und als ’Heilige Jungfrau‘ verehren. Sie schaffte es fast bis zu ihrem Tode die Bewegung aufrechtzuerhalten, danach verlor auch dieser Spuk an Bedeutung und Interesse.

 

Diese Auswüchse haben natürlich nichts mit dem Chassidismus zu tun – und doch stehen alle diese Ereignisse in einer gewissen Verbindung zu ihm: weil sie ebneten entscheidend seiner Entstehung den Weg. Denn der Chassidismus muss in diesem Zusammenhang vielmehr sogar als eine erfreuliche Befreiung von dem ’Sekten-Übel’ gesehen werden, quasi als Erweckungsbewegung innerhalb des Judentums, zumal die Wurzel des Chassidismus ebenfalls in der lurjanischen Mystik zu finden ist.

 

[Zitat Simon Dubnow: Geschichte des Chassidismus, s. 67-70]

 

Zwar war der Einfluss des Rabbinismus in Podolien, Wolhynien und Galizien in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts stark zurückgegangen, desto unbezwingbarer waren aber nach wie vor seine Hochburgen in Litauen und Weißrussland.

Und was die Mystik, sei es in der Form der praktischen Kabbala oder des Sabbatianismus, anlangt so vermochte sie zwar das religiöse Bedürfnis des Volkes ebenso wenig zu befriedigen wie der rabbinische Ritualismus, doch war sie noch immer lebensfähig genug, um andere, dem veränderten Geisteszustand mehr entsprechende Ausdrucksformen zeugen zu können. Die polnische und russische Judenheit barg noch immer einen unversiegbaren Quell schöpferischer Kräfte in sich, der sie in den Stand setzte, aus dem Vollen zu schöpfen und, ohne Hilfe von außen in Anspruch zu nehmen, den geistigen Fehlbetrag aus der eigenen Schatzkammer zu decken.

So geschah es, dass zu derselben Zeit, als die Juden im Abendlande nahe daran waren, sich von dem Strom der neuen Kulturbewegung der westeuropäischen Völker mitreißen zu lassen, unter ihren Brüdern im Osten eine geistige Bewegung aufkam, die darauf ausging, das Alte mit Mitteln zu erneuern, die den Ansprüchen der großen Masse des Volkes entsprachen und geeignet waren, die das Judentum von der übrigen Welt trennende Mauer noch widerstandsfähiger zu machen. Den Antrieb zu dieser einzigartigen Bewegung gab die chassidische Lehre.

 

 

 

Was bedeutet nun der Begriff Chassidismus?

 

CHASSIDIM stammt aus dem Hebräischen und bedeutet (in Plural-Form) die Frommen. Doch die Bezeichnung Chassidim kannte man bereits seit der makkabäischen Epoche, vor allem für jene ‘fromme‘ Juden, die nämlich gegenüber den seinerzeitig stark einwirkenden griechischen Einfluss besonders standhaft blieben.

In der Epoche des Mittelalters verbindet sich der Begriff mit jener mystisch-religiösen Tradition, die von Jehuda he-Chassid in Deutschland (d.h. in Aschkena) geprägt war.

 

 

Nun erhebt sich endlich die Frage: Was ist der Chassidismus?

 

[Zitat Simon Dubnow: Geschichte des Chassidismus, s. 67-70]

Der Chassidismus stellt als Ganzes betrachtet eine der bedeutsamsten und originellsten Erscheinungen nicht allein in der Geschichte des Judentums, sondern auch in der Entwicklungsgeschichte der Religionen überhaupt dar. Es wurde bereits oben gesagt, dass der Chassidismus keineswegs eine Verbesserung der Glaubensdogmen oder eine Reform der religiösen Bräuche anstrebte; was ihm vorschwebte, war Größeres und Tieferes: die Vervollkommnung der Seele.

Mit den Mitteln mächtiger seelischer Beeinflussung gelang es dem Chassidismus, den Typus eines Gläubige zu schaffen, der die Innigkeit des Gefühls höher als die Werkheiligkeit, die G'Tseligkeit und religiöse Inbrunst höher als Spekulation und Thorastudium stellte. Solcherart war die Reaktion gegen die Auswüchse des Rabbinismus und der Kabbala.

Zugleich bot aber der Chassidismus ein Gegenmittel auch gegen die Not und Unterdrückung, die im jüdischen sozialen Leben herrschte, ein Mittel, das allerdings gleichfalls nicht über die Sphäre der Subjektivität hinausreichte.

Zwar dachte der Chassidismus nicht im entferntesten daran und konnte auch nicht daran denken, die Entrechtung und Knechtung der Juden zu beseitigen, gleichwohl erreichte er kraft der von ihm ausgehenden psychischen Einwirkung, dass seine Anhänger für das Joch der Sklaverei und des Galut weniger empfindlich wurden.

Die chassidische Lehre gab den Verfolgten und Unterdrückten den Glauben, dass sie ihre Unterdrücker und Verfolger weit überragten, dass sie vollberechtigte Bürger des wahren G'Tesreiches seien, Bürger einer Welt, in der der geächtete Jude Herr und der ihn verachtende Gutsherr sein Knecht sei.

Indem der Chassidismus Trübsinn, übertriebene Enthaltsamkeit und Askese zu einer schweren Sünde stempelte, richtete er den Geist der Gläubigen auf und ließ in ihren Herzen den Frohsinn erblühen. Mit so mächtigen psychischen Triebkräften wie religiöser Ekstase und dem Heiligen- oder Zaddikim-Kult ausgerüstet, verwandelte der Chassidismus die reale Welt in eine Ausgeburt der Phantasie und die Phantasiebilder in sinnfällige Realität, wodurch er die Möglichkeit erhielt, die Herzen der Chassidim nach Wunsch und Belieben zu lenken.

Der Chassid hätte sich nunmehr mit den Worten Heines sagen können:

 

»Dunkler wird es dir im Kopf,

Heller wird es dir im Herzen

 

Licht und Finsternis, Wahrheit und Wahn waren in dieser wunderlichen Weltanschauung in der Tat aufs bizarrste miteinander vermischt. Das trostlose Leben der Juden im damaligen Polen und Russland hätte auch unmöglich eine abgeklärtere Geistesrichtung zeitigen können. Da nun der Chassidismus den zutiefst wurzelnden Bedürfnissen der unterdrückten Individualität Befriedigung verhieß, sollte er in kürzester Frist einen außergewöhnlich nachhaltigen Erfolg erzielen.

Er sog die Kabbala völlig in sich auf, trug in dem langwierigen und schweren Kampf gegen den Rabbinismus den Sieg davon und zog sodann auch gegen die neuzeitliche Aufklärung zu Felde. In seiner inneren Entwicklung entfaltete sich der Chassidismus nach verschiedenen Richtungen hin und wechselte, je nach der verschiedenen Umgebung und den jeweiligen Zeit- und Ortverhältnissen, wiederholt sein Gesicht.

In seinem Bereiche erstanden schöpferische Helden des Geistes und Heilige, denen freilich auf der anderen Seite Verführer und Verführte, gemeine Schwindler und habgierige Betrüger gegen-überstanden.

Nach und nach zweigten sich von ihm verschiedene Sonderströmungen ab, die sämtliche Lebensgebiete beeinflussten.

 

Die systematische Erforschung all dieser Ideen und Tatsachen in ihrem ganzen Umfange — dies ist die Aufgabe der Geschichte des Chassidismus.

 

§7. Die Gliederung der Geschichte des Chassidismus, ihre Quellen und Forschungsmethoden

 

Chronologisch ist die Geschichte des Chassidismus in ihrem Gesamtverlaufe in zwei Hauptperioden einzuteilen:

 

- - die eine umfasst das 18. und den Anfang des 19. Jahrhunderts, bis zu dem auch in der allgemeinen europäischen Geschichte durch so wichtige Veränderungen gekennzeichneten Jahre 1815; ... und

- - die zweite Periode beginnt im 19. Jahrhunderts vom Jahre 1815 ab.

 

Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts ist die Zeit der Entstehung und Ausbreitung des Chassidismus; und im 19. Jahrhundert erreichte er zunächst den Gipfelpunkt seiner äußeren Erfolge, um hernach in die Phase eines allmählichen Niedergangs einzutreten.

 

Demzufolge gliedert sich die ganze Geschichte des Chassidismus [laut Simon Dubnow] in die folgenden vier Teil-Perioden:

 

1. Die Periode der Entstehung (1740 - 1781), also die Wirksamkeit des Stifters des Chassidismus Rabbi Israel BeSchT sowie die seiner ersten Jünger, des Maggids Bär von Meseritsch und des Rabbi Jakob Joseph Kohen, und zugleich die ersten Jahre des Kampfes zwischen Chassidim und Rabbinisten umfasst.

 

2. Die Periode des Wachstums und der Ausbreitung (1782 - 1815), in der der Chassidismus in raschestem Tempo die Volksmassen gewinnt; die Chassidim hören auf, eine >Sekte< zu sein und erobern die Mehrheit der Gemeinden in Osteuropa; gleichzeitig damit verzweigen sich immer mehr die Dynastien der verschiedenen Zaddikim, was eine Vermehrung der einzelnen chassidischen Zentren und die Differenzierung des Chassidismus zur Folge hat; der Kampf zwischen Chassidim und Misnagdim gelangt in dieser Periode zu seinem Abschluss, und der religiöse Zwiespalt wird endgültig besiegelt.

 

3. Die Periode des Erstarkens des Zaddikismus und des Kampfes gegen die Aufklärung (1815—1870). In diesem Zeitraum wird die chassidische Lehre immer mehr vom Zaddikim-Kult absorbiert, der in steigendem Maße der Entartung anheimfallt, das dem Judentum innewohnende Vernunftprinzip in den Schatten stellt und einen fanatischen Hass gegen das Freidenkertum der neu aufgekommenen Aufklärer entfacht.

 

4. Die Periode des Niedergangs (von 1870 bis zur Gegenwart). In dieser Periode legt die europäische Aufklärung in die Mauern des Chassidismus immer größere Breschen; der Geist der europäischen Bildung und die neu entstandene hebräische Literatur untergraben in der jüngeren Generation die Grundlagen der chassidischen Weltanschauung.

 

Wohl vermag sich der Chassidismus neben dem Rabbinismus als der zweite Eckpfeiler der antiquierten jüdischen Kultur noch eine Zeitlang zu halten, die Wirkung des mächtigen Stromes der Geschichte kann aber auch an diesen beiden Hauptstützen der alten Tradition nicht spurlos vorübergehen.

Hiermit sind wir bei dem wichtigsten Problem unserer Arbeit angelangt: bei dem der Methodologie und der Quellenkritik, d. h. bei der Frage, welchen Weg die Forschung einzuschlagen hat und auf welchem Fundament das Gebäude errichtet werden soll. Bis jetzt beschäftigten sich die Forscher zumeist mit der religiösen. sittlichen und poetischen Seite des Chassidismus als eines geschlossenen Ganzen, nicht aber mit seiner Geschichte und den Wegen seiner Entwicklung. Das dogmatische Interesse überwog letztlich das historische.

Man vertiefte sich in das chassidische Schrifttum, in die Lehren der Zaddikim und die im Volke über diese verbreiteten Sagen, ohne zu beachten, dass die Literatur des Chassidismus in verschiedenen Zeiten und unter verschiedenen historischen Bedingungen entstanden ist, dass ihre Urheber nur zum geringsten Teil selbst Schriftsteller waren und dass die Mehrzahl der einschlägigen Bücher von späteren Verfassern herrührt, die ihre Werke einem der Altvorderen zuschrieben.

 

 

Nach diesem, eben erwähnten Schema, ist auch diese Vortragsreihe über den Chassidismus gegliedert:

 

- Entstehung und Wachstum des Chassidismus

- Erstarkung des Zaddikismus und Kampf gegen die Aufklärer

- Niedergang, Vernichtung durch die Shoah – und letzte Reste

 

Der heutige Begriff >Chassidim< bezieht sich ausschließlich auf den Gründer und die Mitglieder, die aus der von Israel ben Elieser (genannt Ba’al Schem-Tov – BeSchT – d. h: Herr des guten Namens) begründeten Bewegung und derer Nachfolgerschaft entstammen.

 

Der große Ba’al Schem-Tov (Okopy 1700-1760 Miedzyboz) stammte aus einer tief religiös-geprägten Gegend im ost-jüdischen Siedlungs-Rayons (kurz Tchum genannt), aus Podolien. Schon als Jugendlicher verlor Israel ben Elieser seine Eltern. Und sein Vater (wie es eine Überlieferung weiß) soll am Sterbelager zum Kind gesagt haben:

»Mein teurer Sohn, denke dein Lebtag daran, daß der Herr, gelobt sei er, mit dir ist, und so sollst du dich vor nichts fürchten

Dies prägte sich der Knabe ein und stärkte seinen Mut sein Leben lang. Er lernte fleißig im Cheder (einer jüdischen Schule), aber fand am bestehenden Unterrichts-System, keine große Freude.

Den Lebensunterhalt bestritt Israel ben Elieser als >Behelfer<, eine Art Lehrergehilfen, der die jüngsten Schüler des Cheders, in Lesen und schreiben zu unterweisen, als auch die >Keduscha< (das Lobgebet) ihnen einzupauken hatte.

Sieben Jahre lang, etwa bis zu seinem 30. Lebensjahr lebte Israel ben Elieser in äußerst schlichten, bescheidenen Verhältnissen und an verschiedenen Orten zwischen Podolien und der westlichen Karpatenregion; für einige Zeit war er sogar auch in der nördlichen Bukowina zu sehen. Danach, also um 1730, lässt er sich in der galizischen Stadt Tluste nieder, wo er als fertig ausgebildeter >Melamed< (Lehrer) tätig wurde.

 

Um diese Zeit existierten zwischen Galizien und Podolien bereits einige Wunderärzte und sogenannter >Ba’ale-Schem<, die mit allerlei Wunder- und Beschwörungs-Formeln und magischen Gebete das Volk überaus beeindrucken konnten. Das Volk glaubte daran und es begann eine Art Kult um diese >Wundertäter<, die sogar fähig waren, die >Dibbukim< aus den besessenen Leibern zu treiben.

Die Volksgeschichte ist überaus reichhaltig an zahlreichen Legenden und Sagen bezüglich dieser Gestalten.

 

Der erste >Zaddik< (Gerechte) der Chassidim – wie Dubnow schreibt –, also Rabbi Israel Ba’al Schem, hatte sich während seiner Wanderschaft (wenn auch notgedrungen), ebenfalls mit der Heilkunst beschäftigt und gewann bei dem Karpaten-Volk, den Huzulen, große Achtung, so daß seine Gestalt in ihren Geschichten wieder zu finden ist.

Nicht nur das! Er gewann anhand seiner Naturerlebnissen neue und wichtige Einsichten, auch in der Dankbarkeit gegenüber dem einzigen >Wundertäter<, nämlich dem einzig wahren Welten-Schöpfer, G‘T.

Die Stadt Tluste scheint auch die erste zentrale Wirkungsstätte des Ba’al-Schem gewesen zu sein, die er auch zum ständigen Wohnsitz nahm. Von hier aus wirkte er in die benachbarten Gemeinden in Podolien, Moldawien und Galizien.

Nicht bloß seine Wundertaten sprachen sich rasch herum, auch seine Worte, seine tief beseelte Lehre, rührte an den Herzen der einfachen Menschen, die durch sie neue Lebensgefühle und Werte gewannen.

Bald scharten sich etliche fromme Menschen um ihn, wurden seine Anhänger und ernannten ihn schließlich zu ihrem >Guten Meister<, den sie fortan >Ba’al Schem-Tov< nannten.

Die letzten 20 Jahre seines Lebens, von 1740-1760, ließ sich der BeSchT fortan in Miedžybož nieder, was – wie Safed, sehr bald zur Hochburg der Kabbala und des Chassidismus wurde. Und hier, in Miedžybož, wurde der >Ba’al Schem-Tov< zum eigentlichen religiösen Führer verwandelt.

Unter seiner riesigen Anhängerschar befanden sich auch etliche Schüler, wie z.B. Dov Baer von Meseritsch, Jakob Joseph von Polonoje, Pinchas Korez, Menachem Mendel von Witebsk oder Nahum von Czernobyl und viele andere, die wenig später selber zu bedeutende Lehrmeister und Dynastie-Begründer avancierten. Doch davon im nächsten Teil.

 

 

Lesen Sie hier bitte noch einige Worte zur Lehre des Ba’al Schem-Tov, die früher nur mündlich überliefert wurden! Die Zitate sind aus dem Buch von Chaim Bloch: >Chassidische Geschichten< entnommen:

 

 

Die Geschichten: Rabbi Salomo von Radomsk fragte ein­mal Rabbi Chajim von Sandes, ob die Geschichten, die über den Ba’al-Schem erzählt werden, wahr seien. »Ob sie wahr sind«, erwiderte der Sandser, »und in der Tat geschehen sind, vermag ich wohl nicht zu behaupten; ich habe in jenem Zeitalter nicht gelebt. Aber versichern kann ich, daß der Baal-Schem die Kraft hatte, Wunder zu tun, und es war ihm eine Leichtigkeit, auch Tote zum Leben zu erwecken.«

 

 

Die Umkehr: »Ich glaube fest und treu«, sagte Rabbi Nachum von Tschernobil, »daß die Fülle von Heiligkeit, die der Baal-Schem über die Welt ausströmen ließ, die Kraft hat, in das Herz des schlechtesten Juden zu dringen und sein Herz zur vollkommenen Buße zu wecken. Und diese Kraft kann dereinst die Welt zur Umkehr be­wegen.«

 

 

Die Seele: Die Jünger des Baal-Schem bezeugten: »Des Baal-Schem Seele war von denen, die bei der Schlangen-Sünde Adams, des ersten Menschen, in dem alle Seelen eingeschlossen waren, entflohen; sie blieb von der Sünde unberührt.«

Rabbi Hirsch von Zydatschow erzählt: »Des Baal-Schem Seele hat sich gescheut, in das Erdenleben niederzusteigen, da gab man ihr sechzig Seelen von heldenhaften Jüngern, die einst das Lager des Königs Salomo umstanden, in die Welt mit und sie willigte ein.«

 

 

Seine Amulette: Des Baal-Schem Amulette wirkten bei Krankheiten sehr kräftig. Auch hatten sie die Kraft, Dä­monen und böse Geister, die sich in die Häuser einschlichen, zu vertreiben. Als Rabbi Jizchak von Drohobytsch davon erfuhr, wurde er sehr aufgebracht und rief: »Gewiß bedient er sich des heiligen Namens! Ich werde seinen Amuletten die Kraft der Wirkung nehmen.« Von diesem Tage an verloren die Schutzmittel des Baal-Schem ihre Wunderkraft. 

Das währte zwölf Monate.

Es fügte sich aber, daß er einmal mit Rabbi Jizchak zu­sammentraf. »Warum«, fragte der Baal-Schem, »habt Ihr meinem Amuletten die Kraft genommen?«

»Weil es verboten ist«, fuhr ihn Rabbi Jizchak an, »sich der heiligen Namen zu bedienen und Beschwörungen zu betreiben.«

»Tue ich es meinethalben?« fragte der Baal-Schem.

»Ihr laßt Euch dafür Geld geben«, entgegnete Rabbi Jizchak.

»Aber seht, Rabbi Jizchak«, sagte der Baal-Schem, »in keinem meiner Amulette steht ein heiliger Name geschrie­ben, bloß mein eigener Name, >Israel ben Sara<!«

Rabbi Jizchak traute dem nicht und rief erstaunt: »Wie kann der Name eines Menschen, und sei er auch der eines Zaddik, eine so gewaltige Wirkung haben?«

Man ließ mehrere Amulette bringen, sie wurden geöffnet, und Rabbi Jizchak überzeugte sich, daß der Baal-Schem die Wahrheit gesagt hatte; bloß sein Name war ge­schrieben. Darauf erhob sich Rabbi Jizchak und sprach: »Herr der Welt! Wenn ein Mensch durch seinen eigenen Namen Weib und Kinder ernähren kann, was schadet es?«

Von jenem Augenblicke an erlangten die Amulette wie­der ihre Kraft und Rabbi Jizchak bestärkte den Baal­-Schem sogar, sie zu schreiben.

 

 

Die Überhebung: Man weiß, daß der Baal-Schem, ehe er der Welt bekannt geworden war, über Land zu fahren pflegte. Er wollte, ehe er die Sendung antrat, das Volk in allen seinen Schichten sehen. So kam er eines Tages nach Zolkiew, eine Stadt, die damals durch ihre Talmudkenner berühmt war, und begab sich in ein Bethaus.

Noch hatte die Gemeinde das Gebet nicht begonnen und die Leute saßen an den Tischen und lernten. Da sah der Baal-Schem einen Mann zu einem zweiten treten. er wies auf eine Stelle im Talmud, gab vor, diese nicht zu verstehen und bat ihn, sie aufzuklären. Jener vertiefte sich in die betreffende Stelle und suchte sie zu erklären; seine Mühe war vergebens. Der >Fragende< stand hinter ihm und lächelte vergnügt.

»Worüber lächelt Ihr denn so frohlockend?« fragte der Baal-Schem den Mann.

Jener antwortete leise: »Seht Ihr nicht, wie lange er sich um die Talmudstelle bemüht?«

»Das ist doch kein Anlaß zum Lachen, vielmehr zum Weinen! Man soll zu G’T beten, daß er unsere Augen erleuchten möge!«

»Ich weiß aber Bescheid an dieser Stelle«, rief jener stolz, »und ich legte ihm die Abhandlung nur vor, um ihn zu prüfen.«

»Bösewicht!« rief der Baal-Schem, »Ihr wißt Bescheid und wolltet nur Eurem Gefährten Verlegenheit und Mühe bereiten, um mit Eurem Wissen zu prunken? Ist dem jüdischen Volke zu diesem Zweck das teure Gut, die Lehre, anvertraut worden?«

 

 

Der Gegner: Einige Chassidim kamen zu ihm und sagten:

»Unsere Gegner, die Weisen von Brody, bedrängen uns fortwährend und werfen uns vor, daß wir, Gott behüte, dem Gesetz zuwiderhandeln und die alten heiligen Sitten der Vorfahren mißachten. Wir halten es nicht länger aus und müssen ihnen Rede stehen.«

»Unsere Gegner«, erwiderte der Baal-Schem, »tun das gewiß in frommem Eifer. Sie glauben ein gutes Werk zu vollbringen und haben Freude daran, daß sie uns bedrän­gen. Wie dürfen wir sie um ihre Freude bringen?«

 

 

Gegnerschaft: Bevor Rabbi Jizchak Horowitz als Oberrabbiner nach Hamburg berufen wurde, hatte er diese Stelle in Brody inne und war ein heftiger Gegner des Baal-Schem, von dem er nur Übles zu sprechen pflegte.

Einst sagte der Baal-Schem zu seinen Jüngern: »Geht zum heiligen Gaon Rabbi Jizchak und lästert mich.«

Die Schüler sahen ihn erstaunt an.

Da sagte er: »Tut es, damit der große Mann Zufriedenheit finde und sein Herz sich erfreue!«

 

 

Der Rat: Einige Jünger kamen zu ihm und baten um Erlaubnis, einen berühmten Mann in Ostrog aufsuchen zu dürfen, um ihn beim Verkünden seiner Lehre zu sehen. Er erlaubte es ihnen. 

Da fragten sie: »Wie werden  wir erkennen, ob er wahr und vollkommen ist?« 

Er antwortete: »Erbittet von ihm einen Rat, was Ihr zu tun habt, wenn Euch beim Beten und Lernen fremde Gedanken bestürmen. Gibt er Euch einen Rat, so wisset, daß er ein  Schwindler ist. 

Denn es ist nicht die Aufgabe des Menschen, das Böse auf einmal von sich abzutun und das Fremde zu entfernen, sondern bis zur Todesstunde mit dem Fremden zu ringen.«

 

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