Israelitische Gebetsordnung der Israelitischen Gemeinde München

Vorwort Rabbiner Dr. Joseph Perles, 1876

 

 

Die auf Regelung und Veredelung des Gottesdienstes gerichteten Bestrebung in unserer Gemeinde sind so alt, wie die Gemeinde selber. Schon während des Baues der am Rüsttag des Pessach-Festes 5586 (21. April 1826) eingeweihten Synagoge wurden von der damaligen Gemeindeverwaltung (den Administratoren Israel Hirsch Pappenheimer und dem Kgl. Dänischen Kommerzienrat Eduard Marx, den Ausschussmitgliedern Anselm Marx, M. H. Seligstein, Wolf Wertheimer, Abraham Wiehl, D. S. Helbing, A. Löwenfeld, L. S. Lilienthal und Moritz Mändl) die gedruckt vorliegenden »Statuten für die innere Ordnung der Synagoge in München« vom 23. Mai 1825 festgestellt und von der Kgl. Regierung bestätigt. Dieselben enthalten bereits sehr beachtenswerte Anläufe zu einer würdigen Gestaltung des Gottesdienstes, eingehende Bestimmungen über eine feierliche Art des Priestersegens, des Ein- und Aushebens der Tora, des Vorlesens der Tora, Haftora und Megilla usw.

Auf die Aufforderung der Kgl. Regierung vom 17. Juli 1825, ein Gebet- und Gesangbuch zur Prüfung vorzulegen, ließ der genannte verdienstvolle Vorstand Is. Hirsch Pappenheimer durch den auch als Verfasser eines »Lehrbuches der mosaischen Religion« (München 1826) bekannten Dr. Alexander Behr eine deutsche Übersetzung der Tefilla anfertigten und auf seine Kosten zum Drucke befördern.

König Ludwig I. erteilte dem Gebetbuch (Tägliche Gebete der Israeliten, mit Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von Dr. Alexander Behr, auf Kosten des Herrn Israel Hirsch Pappenheimer, München 1827) ein Privilegium auf sechs Jahre und die Kgl. Regierung erblickte »in dem beabsichtigten Unternehmen des Herrn Pappenheimer mit Wohlgefallen einen neuen Beweis seines tätigen Strebens für die Veredelung des israelitischen Gottesdienstes und für die Beförderung wahrer Religiosität unter seinen Glaubensgenossen«, wies denselben jedoch an, die Approbation eines der angesehensten Rabbiner nachzubringen. Da eine Kürzung oder Veränderung im Texte der hebräischen Gebete nicht vorgenommen wurde, so erstreckte sich die eingeholte Approbation des Oberrabbiners zu Würzburg Abr. Bing lediglich auf die Übersetzung, in welcher allerdings an verschiedenen Stellen der versuch gemacht wurde, durch Umschreibung den Inhalt einzelner Gebetstellen abzuschwächen*). Oberrabbiner Bing scheint nun die Revision der Übersetzung mit großer Sorgfalt und Strenge vorgenommen zu haben, und der Übersetzer, der sich offenbar einer freiern Auffassung zuneigt, beichtet selber im Nachtrage zum Gebetbuch [Seite 515]: »Mehrere Stellen wurden auf Verlangen des Oberrabbiners Bing, als Bedingung zur Approbation, in der Übersetzung verbessert

Immerhin war dieses auch äußerlich splendid ausgestattete Gebetbuch, das – wie Herr Pappenheimer im Vorworte mit Genugtuung hervorhebt – »in dieser Art in Deutschland noch nicht vorhanden war«, eine beachtenswerte Erscheinung und wohlgeeignet, andachtsbedürftigen Betern das Verständnis der Gebete in zweckentsprechender Weise zu vermitteln.

Auch für den gesanglichen eil des Gottesdienstes wurde 1832 durch die »nicht ohne allen Widerspruch« errungene Einführung des Chorgesanges, ausgeführt von einem aus Knaben und Männern zusammengesetzten vierstimmigen Chorpersonal, Sorge getragen. Das äußerst tätige Synagogen-Chor-Comité war auf die Beschaffung geeigneter Synagogengesänge bedacht und ging dabei von dem Grundsatze aus, »alles was die Synagoge an Melodien sowohl, als auch an recitierendem Vortrage ([vnzx) Eigentümliches und aus früheren Zeiten stammend besitzt, beizubehalten, dasselbe jedoch von den durch die Länge der Zeit, sowie durch den verdorbenen Geschmack unkundiger Sänger entstandenen Überladungen zu reinigen

Diese Gesänge fanden eine so beifällige Aufnahme, dass »von vielen anderen Gemeinden, sowohl des In- als des Auslandes, Abschriften von unseren Partituren zu gleichem Zwecke verlangt, die ihnen auch zu billigen Preisen überlassen wurden,« und der damalige Lehrer und spätere II. Cantor der Gemeinde, Maier Kohn (starb am 19. Oktober 1875) einen Prospekt zur Veröffentlichung derselben durch den Druck ergehen ließ (August 1838) – vergl. Literarisches und homiletisches Beiblatt zur Allgemeinen Zeitung des Judentums. 1838, Nr.28.

Die von verschiedenen bedeutenden Fachmusikern: dem Musikdirektor Kaspar Ett, den Hofkapellmeistern Hartmann Struntz und Franz Lachner, den Kapellmeistern Drechsler, Drobitsch und Lang, ferner von den musikalisch gebildeten Gemeindemitgliedern: David Hessel (Sohn des am 1. Siwan – 28. Mai 1824 verstorbenen ersten hiesigen Rabbiners Hesekiel Hessel), Isidor Neustätter, Jeremias Neustätter, S. Naumburg, N. Wimmelbacher und dem Herausgeber Maier Kohn komponierten und zum Teil von den genannten K. Ett harmonisierten Synagogengesänge erschienen als das erste Sammelwerk dieser Art (noch vor dem Sulzer’schen Schir Zion anfangs der vierziger Jahre in der Johann Palm’schen Hofbuchhandlung dahier unter dem Titel: »Vollständiger Jahrgang von Terzett- und Chorgesängen der Synagoge in München nebst sämtlichen Chorresponsorien zu den alten Gesangsweisen er Vorsänger ([vnzx) herausgegeben von dem Synagogen-Chor-Comité in München, in dessen Auftrag besorgt und redigiert von Herrn Lehrer Maier Kohn« **) [in 3. Lieferungen: I. für die Sabbate, II. mit 39 Nummern für die drei Feste und III. in 95 Nummern für Neujahrs- und Versöhnungsfest, Purim, 9. Av usw.] und fanden die weiteste Verbreitung.

Zu einer eingreifenden Reform der Liturgie kam es jedoch vorerst in den folgenden Jahrzehnten nicht, trotzdem die Geneigtheit hierzu bei einem großen Teile der Gemeinde vorhanden war. Die politischen Verhältnisse in Bayern lenkten die Aufmerksamkeit der Gemüter nach einer anderen Richtung hin. Mit ausdrücklicher Bezugnahme auf die »politische Lage« wurden in den vierziger Jahren die zwischen dem Rabbinate und der Administration Jahre lang schwebenden und bereits weit vorgeschrittenen Verhandlungen über die Reform des Gottesdienstes eingestellt. Im Jahre 1849 verfügte Rabbiner Aub s"l (starb am 12. Juni 1875 im Alter von 79 Jahren) im Einvernehmen mit der Administration, aber nicht ohne lebhaften Widerstand bei einigen Gemeindemitgliedern zu finden, die Streichung der Pijutim an den Sabbaten und drei Festen.

Abgesehen von der Einschaltung einiger deutscher Gebete am Neujahrsfest und Versöhnungstage wurden weitere Veränderungen oder Kürzungen der Liturgie nicht vorgenommen. Als ich mein Amt dahier antrat (Mai 1871), war die unveränderte Tefilla und das unverkürzte Machsor für Rosch ha-Schana (hnwh war) und Jom ha-Kippur (Myrvpkh Mvy) im Gebrauche, wurden zahlreiche mi schevorach (Krbw ym) gemacht, sämtliche Kinnot und Selichot recitiert.

Die Verhältnisse in der Gemeinde hatten sich in der Zwischenzeit gründlich verändert. Unter dem Einflusse der neuen Gesetzgebung wuchs München, das im Jahre 1826 etwa 60 israelitische Familien zählte, zur größten Gemeinde Bayerns heran, deren Mitgliederzahl bei der stetig fortschreitenden Zunahme gegenwärtig schon an der Schwelle des ersten Tausend steht. Das Bedürfnis nach einer neuen großen Synagoge und der zeitgemäßen Regelung des Gottesdienstes trat immer stärker und unabweisbarer hervor. Die Lösung der gottesdienstlichen Frage wurde jedoch durch die mit dem raschen Wachstum der Gemeinde verknüpfte Fluktuation der gemeindlichen Elemente und die sich nur allmählich vollziehende Gruppierung der Parteien, sowie auch durch die Verzögerung des Synagogenbaues erschwert und hintangehalten. So konnte in der Zwischenzeit nur einzelnes: die einmalige Recitation der Schmone Esre (hrwe hnmw) an Sabbaten und den drei Festen, die Einschaltung deutscher Gebete, die Kürzung der Pijutim und Selichot an Rosch ha-Schana (hnwh war) und Jom ha-Kippurim (Myrvpkh Mvy), die Ersetzung der mi schevorach (Krbw ym) durch deutsche Casualgebete u. A. durchgeführt werden.

Im Laufe des Jahres 1875 regte die dermalige Gemeindeverwaltung beim Rabbinate eine einheitliche und durchgreifende Lösung der längst schwebenden Reformfrage an.

Die hierüber gepflogenen Unterhandlungen führten zu dem im Februar dieses Jahres (1876) zwischen beiden Organen vereinbarten Beschlusse auf Einführung der Orgel und einer neuen, den Reformbedürfnissen Rechnung tragenden Gebetordnung in der hiesigen Synagoge.

Die Orgel wurde bei Gelegenheit des 50jährigen Jubiläums der Synagoge (am ersten Pessachtage 5636, 9. April 1876) eingeweiht.

Von der verehrlichen Verwaltung zur Ausarbeitung eines Programms für die in Aussicht genommene neue Gebetordnung aufgefordert, konnte und mochte ich mich nicht entschließen, die bereits übergroße Zahl der Gebetbücher um ein weiteres zu vermehren und hielt es vielmehr für angemessener, ein bereits vorhandenes, dem Standpunkte und den Bedürfnissen unserer Gemeinde entsprechendes Gebetbuch zu adoptieren. Als ganz besonders geeignet zu diesem Zweck erschien mir das bereits in zahlreichen süddeutschen Gemeinden eingebürgerte und bewährte Kirchenrat Maier’sche Gebetbuch, welches denn auch auf meinen Vorschlag von der verehrlichen Verwaltung mit einigen gewünschten Modifikationen und Zusätzen angenommen wurde und als eine mit Bewilligung der Verlagsbuchhandlung veranstaltete neue und vermehrte Auflage des genannten Gebetbuchs für unsere Gemeinde hier vorliegt.

Verschiedene unwesentliche Abweichungen von der Anordnung des Maier’schen Gebetbuches wurden zum Teil mit Rücksicht auf die bisherige Übung unseres Gottesdienstes vorgenommen. Neuhinzugekommen sind die dem Joël’schen Gebetbuche entlehnten Modifikationen einiger Partien in Schmone Esre (hrwe hnmw) der Sabbate und Festtage, die Einschaltung verschiedener deutscher Gebete (aus dem Geiger’schen, Joël’schen, Mannheimer Gebetbuche und unserem bisherigen Rituale), die Trauungs-Benedictionen, die ywfn ykrb und die Pirke Abot nebst der Übersetzung aus dem ältesten Münchner Gebetbuche.

So möge denn dem Gebetbuche, wie es sich schon früher zahlreiche Freunde erworben hat, auch in seiner gegenwärtigen Gestalt die Teilnahme der Betenden nicht fehlen; möge es zur Belebung wahrer Andacht und Festigung des religiösen Sinnes in unserer Gemeinde beitragen!

München, im November 1876.

 

Dr. Joseph Perles, Rabbiner

 

 

 

Kurze Biographische Notizen zu Rabbiner Joseph Perles

Geb. 1835 in Baja (Ungarn), gest. 1894 in München. Er war mit der Schriftstellerin Rosalie Perles (geb. Schefftel, 1839 Breslau -?) verheiratet. 

Sein Sohn, Felix Perles (1874 München -?) war Bibelforscher, Linguist und seit 1899 ebenfalls Rabbiner (in Königsberg).

 

 

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Anmerkungen im Text:

*) z.B. in der Übersetzung des langen Mvxr avhv, von v[[n alv

[vjrah uvgl vnyhla h, von lbbb ydv larwy aerab yd »die im gelobten Lande und in den übrigen Ländern sind; a[vlg ywyrl den Lehrern der Israeliten usw.

 

**) Derselbe hat »zum Abschluss seiner dem Synagogengesang gewidmeten Tätigkeit« ein vollkommen druckfertiges Werk: »der Vorbeter in der Synagoge zu München, enthaltend die Vortragsweise der Gebete ([vnzx) im ganzen Jahre, sowohl an Wochen- als auch an Sabbat- und Feiertagen« (302 Nummern) handschriftlich hinterlassen. Wie in dem vom September 1879 datierten Vorworte bemerkt wird »sind die alten Weisen in ihrer ursprünglichen Form gegeben, nicht wie in den meisten Werken unserer Zeit, wo solche infolge einer besseren musikalischen Geschmacksrichtung zu veredeln gesucht und modernisiert werden

 

 

(© 1992-2006, Chaim Frank, Dokumentations-Archiv, München)