Gedenken des 9. November 1938

Presse-Info - 2002

 

 

Schweriner Volkszeitung Lokales 8.11.2002

Sonnabend, 9. November 2002

Rassismus und Hass glimmen weiter

Gedenken an 64. Jahrestag der Kristallnacht

 

 Mehr als 100 Menschen waren am späten gestrigen Nachmittag auf dem geschlossenen jüdischen Friedhof zusammengekommen, um des 64. Jahrestages der so genannten Reichskristallnacht zu gedenken.

 

 Mit eindringlichen Worten wurde nicht nur an die Ereignisse von 1938 erinnert, sondern zugleich der eindringlichen Mahnung Gehör verschafft, dass die Lehren aus dieser Zeit überhaupt nichts an Aktualität verloren haben. Rassismus und Hass sind keineswegs überwunden, sondern glimmen weiter. Nach der Verlesung des Klagepsalms in deutscher und russischer Sprache folgte eine Fürbitte für alle Juden der Welt sowie für Frieden für Israel und seine Nachbarn.

 

 Heute um 9.30 Uhr findet an der Gedenkstele für die ehemalige Synagoge in der Augustenstraße ein Trauergebet statt, das an die Zerstörung der Synagoge und an die unzähligen Opfer der Pogrome erinnert.

 

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Märkische Allgemeine Kultur 8.11.2002

Der Schicksalstag 9. November im Deutschen Fernsehen.

Eine (fast) vergebliche Suche – Vorwärts und vergessen (von Dirk PILZ)

 

 Dieter Bohlen hat kürzlich seine Memoiren veröffentlicht und Thomas  Gottschalk dieser Tage an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf  daraus vorgelesen. Das Werk heißt "Nichts als die Wahrheit", die  Studenten waren begeistert. Die Lesung brachte es zur Meldung im  deutschen Mittagsfernsehen. Denn nichts als die Wahrheit haben wir  immer gern. Was Wahrheit ist, wollen wir lieber zwar gar nicht erst  fragen.

 

 Aber was das deutsche Fernsehen am 9. November veranstaltet, ist die  Nachfrage dann doch wert. Schließlich vereint dieser Tag historische  Fakten von großer Symbolkraft: Novemberrevolution und die Ausrufung  der Republik vom Reichstag 1918, die "Kristallnacht" mit ihren  faschistischen Pogromen in ganz Deutschland 1938 und 1989 dann die  Öffnung der innerdeutschen Grenze.

 

 Die deutsche Geschichte ist wahrlich ein Thema für sich. Für das  deutsche Fernsehen allerdings nicht. Es bestätigt die These des  Historikers Christian Meier. In seinem jüngsten Buch "Von Athen bis  Auschwitz" hat er die These von der "Abwesenheit der Geschichte aus  dem öffentlichen Bewusstsein" vertreten. Er darf sich beim Blick auf das  heutige TV-Programm bestätigt fühlen.

 

 Die ARD schickt uns zur Prime Time mit Gotthilf Fischer und seinen  Chören auf eine musikalische Reise durch Berlin und Brandenburg. Die  Zuschauer dürfen sich auf Begegnungen mit René Kollo, Karat und dem  Polizeiorchester Brandenburg freuen. Auch eine Art, sich der  Geschichte zu widmen: Gotthilf Fischer und der Journalist Friedrich  Nowotny wandeln auf den Spuren von Theodor Fontane, während der  WDR zur gleichen Zeit Aachen und das Dreiländereck in  "Wunderschönes NRW" auf den Sendeplan hebt. Der MDR versucht  sich parallel dazu am "Großen Humor-Abend" und der NDR füllt die Zeit  mit einem mittelprächtigen "Tatort" und Manfred Krug als Kommissar.

 Immerhin erinnert der Lebensweg des Manne Krug von weitem an die  Wirrnisse deutscher Geschichte. Aber sonst? Die staatlich  subventionierten Sender schweigen sich zum 9. November tapfer aus,  obwohl in den Archiven genügend gute Spiel- und Dokumentarfilme  liegen. Vielleicht, weil das deutsche Fernsehvolk sowieso ZDF guckt:

 Spiel und Spaß mit Thomas Gottschalk bei "Wetten dass..?" aus der  Rheinhalle in Düsseldorf. Dieter Bohlen kommt nicht. Aber Michael  Mittermeier, Heino und die Gattin des Kanzlers sind da. Allgemeine  Devise: Gottschalk statt Geschichte.

 

 Die Novemberrevolution kommt nirgends vor. Die "Kristallnacht" ist auf  den Intellektuellensender 3SAT verlegt, mit einer szenischen Lesung an  der Berliner Volksbühne von 1998 - "Da muss der Jude den Schaden  bezahlen". Und der Fall der Mauer? Der ORB hat sich zu dem  zweiteiligen Familienepos "Marleneken" entschieden, in dem Hannelore  Hoger die 50jährige Marilena auf dem Weg zurück in die vor 28 Jahren  verlassene DDR spielt. Ein bisschen deutsch-deutsche Geschichte.

 Immerhin. Und ein bisschen deutsch-deutscher Humor beim  Gernsehabend "Hüben & Drüben" mit SFB1.

 

 Sonst noch was? Phönix zeigt über den Tag verteilt vier  Dokumentationen zur Wiedervereinigung. Das war's. Abgesehen von  Frank Beyers "Nikolaikirche" auf MDR und "Die Legende von Paul und  Paula" bei XXP - Filme, die sowieso das ganze Jahr irgendwo laufen.

 

 Natürlich, indirekt kann man den 9. November mit seiner Symbolkraft  verschiedentlich wiederfinden. Die ARD zeigt "Das Boot", tief in der  Nacht den sehenswerten Robert Aldrich -Streifen "Ardennen" und der  WDR bringt Anthony Mann in "Tag ohne Ende": Alles mehr oder weniger  Anti-Kriegsfilme, die alle mehr oder weniger auch mit deutscher  Geschichte zu tun haben. Aber wenn selbst Arte keinen Themenabend  dem 9. November widmet, wo der Vorzeigesender sich doch sonst  beinahe allen Fragen der Zeit annimmt, kann die Fernsehbotschaft des  Tages nur lauten: Lieber nicht davon reden. Und lieber gleich  Privatfernsehen einschalten. Da darf man sich in der Bundesliga auf  nichts als die Wahrheit freuen und mit James Bond "Liebesgrüße aus  Moskau" empfangen. Wir sind begeistert.

 

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Leipziger Volkszeitung Lokales 8.11.2002

© Leipziger Volkszeitung vom Freitag, 8. November 2002

Gedenkwege führen zu Orten früheren jüdischen Lebens

 

 9. November 1938 - die so genannte Reichskristallnacht: Mit Gedenkfeiern, Gottesdiensten, Installationen, einem Kerzenweg und Stadtrundgängen erinnern die Stadt, diverse Institutionen und die jüdisch-christliche Arbeitsgemeinschaft am Wochenende und den folgenden Tagen an die Pogromnacht vor 64 Jahren.

 

 Da der 9. November diesmal auf den Sonnabend fällt und nach jüdischem Glauben als Sabbat ein Tag der Ruhe ist, beginnen die offiziellen Gedenkveranstaltungen erst am Sonntag.

 Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee und Landesrabbiner Salomon Almekias-Siegl werden um 14 Uhr an der Gedenkstätte der einstigen Großen Synagoge in der Gottschedstraße mit Ansprachen, Gebet und Kaddisch der Opfer gedenken, hieß es aus dem Rathaus. Mit Bussen (kostenfrei) führt dann 14.30 Uhr eine Fahrt zum Gedenkstein am Partheufer in der Parthenstraße. Im dortigen betonierten Flussbett waren im November 1938 bekanntlich jüdische Bürger zusammengetrieben und später in die Vernichtungslager abtransportiert worden. Gegen 15 Uhr ist Abfahrt zur Kranzniederlegung auf dem Neuen Israelitischen Friedhof in die Delitzscher Straße. Anschließend kehren die Busse zum Neuen Rathaus zurück.

 

 Ab 18 Uhr wird in der Thomaskirche ein Gedenkgottesdienst abgehalten, den die evangelisch-lutherische Kirchgemeinde St. Thomas und die Israelitische Religionsgemeinde gemeinsam veranstalten. Die Ansprache hält Propst Lothar Vierhock. Der Leipziger Synagogalchor unter Leitung von Helmut Klotz übernimmt die musikalische Begleitung.

 

 Am Montag ist das Friedens-gebet in der Nikolaikirche um 17 Uhr ebenfalls der Erinnerung an die Reichspogromnacht gewidmet. Danach folgt der traditionelle Kerzenweg. Er soll diesmal allerdings zu einem erweiterten Gedenkweg werden, der zu Orten früherer Synagogen und jüdischer Betstuben führt. Ziel des Ganges ist wiederum die Gedenkstätte Gottschedstraße.

 

 Vom Sonntag an bis zum 30. November sollen überdies Lichtinstallationen der Leipziger Künstlerin Nina K. Jurk 15 Orte ehemaliger Synagogen und Betstuben markieren. Sie erinnern in der Ausführung symbolisch an Thorarollen: 160 Zentimeter hohe Lichtsäulen sind mit einem Text bestückt und beginnen zu leuchten, sobald die Dämmerung einsetzt. Auf den Textrollen ist die "Todesfuge" des französischen Dichters Paul Celan zu lesen.

 

 Anlässlich des Jahrestages laden unterdessen die Gästeführer der Leipzig Erleben GmbH zu zwei Rundgängen ein. Bereits am morgigen Sonnabend beginnt einer um 15 Uhr mit dem Titel "Jüdisches Leben in Leipzig". Er führt zu Stellen im Stadtzentrum, wo trotz "Kristallnacht" und Kriegszerstörung noch immer die Spuren der Leipziger Juden erkennbar sind: ob am Brühl, dem einstigen Pelzhandelszentrum; in der Universitätsgeschichte oder an ehemals jüdischen Kaufhäusern.

 Dass es jüdisches Leben wieder gibt, soll am Ende ein Besuch im Café "Küf" belegen. Start der Tour: Tourist-Information, Richard-Wagner-Straße 1, Teilnahmegebühr: acht Euro.

 

 Rundgang Nummer zwei ist für Sonntag, 14 Uhr, ab dem Brunnen vorm Hotel Inter-Continental angesagt. Es geht durch das frühere Zentrum jüdischen Lebens in Leipzig, durchs Waldstraßenviertel. Auch die einzig erhaltene Synagoge Leipzigs solle aufgesucht werden, hieß es. Die Teilnahme kostet 7 Euro.

Unter Telefon (0341) 7 10 42 80 können Karten für beide Veranstaltungen vorbestellt werden.

 

 A.Raulien

 

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Emder Zeitung Lokales 8.11.2002

Neue Gedenkstätte in Leer wird eingeweiht

Man erwartet auch Jechiel Hirschberg aus Tel Aviv, der 1926 in Emden geboren wurde.

 

In Leer wird am Sonntag, dem 10. November, ab 18 Uhr die neue Gedenkstätte für die in der "Kristallnacht" zerstörte Synagoge eröffnet. Sie liegt an der Heisfelder Straße, dem einstigen Standort der Synagoge direkt gegenüber. Als Gast zu dieser Veranstaltung wird der 1926 in Emden geborene Jechiel (Michael) Hirschberg erwartet, der mit seiner Frau Judith und den beiden Söhnen aus Tel Aviv anreist.

 Familie Hirschberg war 1938 nach Leer gezogen, wo Vater Seligman an der jüdischen Schule als Lehrer tätig war.

 Die Gedenkstätte besteht aus einem gepflasterten Platz mit einem Stern in der Mitte und drei Stein-Stelen, in die die Namen der einst in Leer lebenden rund 200 Juden eingelassen sind. Ein alter Gedenkstein auf Höhe der alten Synagoge "Am Bungert" bleibt bestehen.

 

 Die Einrichtung der neuen Gedenkstätte wurde von der Stadt Leer, dem Ökumenischen Kirchenkreis und der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Ostfriesland betrieben. Das Projekt ist mit 60 000 Euro beziffert, wovon die Hälfte bereits als Spenden zusammen gekommen ist.

 Wie der Sprecher der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, Gernot Beykirch, gestern sagte, werde Hirschberg nach einer Kerzenprozession (von der Baptistenkirche, wo um 17 Uhr ein Gottesdienst beginnt, zur Gedenkstätte) um 18 Uhr über seine Erinnerungen an die Pogromnacht sprechen. Hirschberg durfte 1939 nach Palästina ausreisen, seine Eltern kamen in Auschwitz um. red/wag  Am Montag, 11. November, lädt die Gesellschaft um 19.30 Uhr zu einem Abend mit dem Ehepaar Hirschberg ins Gemeindehaus der Großen Kirche, Ref. Kirchgang 9-11, Leer, ein.

Red

 

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Thüringische Landeszeitung Politik 8.11.2002

Gebete und Schweigen

 

Erfurt/Eisenach/Weimar. (dpa/tlz) 

Mit Gebeten und Schweigeminuten hat Thüringen am Freitag der Opfer der Pogromnacht vor 64 Jahren gedacht. Auf dem jüdischen Friedhof in Erfurt legten Vertreter der Jüdischen Landesgemeinde und der Stadt Kränze nieder. Diese Nacht im Jahr 1938 sei für das Dasein der Juden "der endgültige Beginn des grausamsten Einschnitts seit der Zerstreuung vor nahezu 2000 Jahren" gewesen, sagte der Vorsitzende der Jüdischen Landesgemeinde, Wolfgang Nossen.

 

 Gerade so, als sei nichts geschehen

 

 In der von den Nazis organisierten Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurden in Deutschland mehr als 1000 Synagogen und Gebetshäuser zerstört und 91 Menschen getötet.

"Zirka 30 000 wurden in dieser hämisch als Kristallnacht bezeichneten Nacht in Konzentrationslager verschleppt", sagte Nossen. Am Morgen des 10. November 1938 sei auch die Erfurter Synagoge nur noch ein Trümmerhaufen gewesen. Viele Erfurter hätten die Gewalttaten ignoriert. "Sie begingen unmittelbar darauf ihren Martinstag gerade so, als sei nichts geschehen."

Schüler eines Gymnasiums zitierten aus Interviews mit Zeitzeugen, die von den Geschehnissen im November 1938 in Erfurt berichteten. Darin schilderte eine Frau, wie sich eine Menschenmenge am Martinstag mit Laternen vor den Überresten der Synagoge versammelte. "Wir stehen in der Kette der Schuldigen", hieß es in einem Grußwort der Pröbstin der Evangelischen Kirchenprovinz Sachsen-Thüringen, Elfriede Begrich.

 

 "Der 9. November steht für die Beseitigung von Freiheit und für das Gewinnen der Freiheit", sagte Ministerpräsident Bernhard Vogel (CDU) zum Jahrestag sowohl der Reichspogromnacht als auch des Mauerfalls. Zu Recht werde der 9. November als der Schicksalstag der Deutschen bezeichnet. Thüringens Landtagspräsidentin Christine Lieberknecht erinnerte an den Wert von Demokratie und Freiheit. "Wo der Wille zur Freiheit und ethische Maßstäbe fehlen, können die Verächter der Demokratie ihr Feld bestellen", sagte Lieberknecht. Zum Gedenken an die Opfer des Völkermordes betonte Kultusminister Michael Krapp (CDU), der 9. November müsse den Deutschen auch eine Mahnung sein. "Wir neigen dazu, die bitteren Lektionen unserer Geschichte schneller als andere Völker ad acta zu legen".

 

 Im neuen Landtagsgebäude in Erfurt wurde eine Ausstellung mit dem Titel "Betrifft: Aktion 3 - Deutsche verwerten jüdische Nachbarn" eröffnet. Die Sonderschau will anhand von Akten deutlich machen, wie sich Verwaltungen und Bevölkerung an jüdischem Eigentum bereicherten. Die Ausstellung ist ein Beitrag des Thüringer Landtags zu den 10. Tagen der Jüdisch-Israelischen Kultur in Thüringen.

 

 Am Abend versammelten sich Eisenacher zu einer Gedenkminute in der Haupthalle des Bahnhofs. Dort erinnert eine Gedenktafel an die Deportation der Juden. Im Anschluss war ein Marsch zur Gedenkstätte an der ehemaligen Synagoge geplant. Auch an diesem Samstag sind in mehreren Städten Gedenkveranstaltungen geplant, unter anderem in Weimar und Nordhausen. Die Juden begehen an diesem Tag Sabbat, den Tag der Ruhe und der Erinnerung an Gottes Schöpfungswerk. Zahlreiche jüdische Friedhöfe sind deshalb geschlossen.

 

 08.11.2002

 

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Thüringische Landeszeitung Kultur 8.11.2002

Wiederbelebung jüdischen Lebens in Thüringen

 

 Der Termin war lange vereinbart und sorgfältig vorbereitet. Schließlich wollte die Jüdische Landesgemeinde Thüringen die Einweihung ihres neuen Kulturzentrums in der Erfurter Innenstadt gemeinsam mit Gästen aus Politik, Gesellschaft und den Kirchen feiern. Doch festliche Atmosphäre wollte sich nicht so recht einstellen: Es war der 11. September 2001. Alle Aufmerksamkeit galt an diesem Tag den Nachrichten von den Terroranschlägen in den USA.

 

 Inzwischen ist das Gemeindezentrum als Begegnungsstätte etabliert. Vor allem den jüdischen Mitbürgern wurde es zum regelmäßigen Treffpunkt - mit Computerkabinett, Keyboard-Schule und Tischtennis für die Jugend und einem Seniorenclub. Zu den öffentlichen Veranstaltungen gehört am morgigen Sonntag zu den Tagen der jüdisch-israelischen Kultur in Thüringen eine Lesung von Sally Perel aus seinem Buch "Ich war Hitlerjunge Salomon". Dabei wirft der Veranstaltungshinweis "in russischer Sprache" ein Schlaglicht auf die aktuelle Situation der jüdischen Landesgemeinden im Osten.

 

 Nicht nur in Thüringen verdanken sie ihren Zuwachs der großen Zahl von Juden, die seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach Deutschland kamen. Im letzten Jahr der DDR hatte die Thüringer Gemeinde nur noch 26 Mitglieder. "Einen Minjan, die zehn zum Gebet erforderlichen Männer, gab es schon lange nicht mehr", berichtet Landesvorsitzender Wolfgang M. Nossen. Heute gehören rund 540 jüdische Mitbürger zur Landesgemeinde. Die meisten leben in Erfurt und knapp 100 in Jena.

 

 Nossen erinnert an die Einladung von Lothar de Maizière 1990 an die Juden in der damals noch existierenden Sowjetunion, in die "Übergangs-DDR" auszuwandern und hier ungestört und ohne Diskriminierung ihrem jüdischen Leben nachzugehen. "Als sie dann kamen, wusste kein Mensch genau, was zu tun war." Neben vielfältigen sozialen Problemen vom Arbeitsplatz über Sprachbarrieren bis zur Wohnung gehört der hohe Anteil von nichtreligiösen Juden bis heute zu den besonderen Herausforderungen. Nossen behandelt die Suche nach einer neuen Identität pragmatisch: "Ich erwarte nicht, dass sie orthodoxe Juden werden. Aber die Grundlagen unserer Religion und Geschichte sollten sie kennen."

 

 Vor dem Hintergrund von sieben Jahrzehnten Atheismus und Antisemitismus in der Sowjetunion und deren offenen und verdeckten Spielarten in der DDR erweist sich die Wiederbelebung des jüdischen Lebens als schwieriger und langwieriger Prozess. Die jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger seien "als Juden nicht wahrnehmbar", bestätigt auch Pfarrer Christian Garbe von der Evangelischen Stadtmission, die zur Landesgemeinde enge Kontakte unterhält.

 

 Dafür gibt es, neben sozialer Verantwortung, nach Garbes Auffassung auch historische Gründe. Die zur Stadtmission gehörende Michaeliskirche sei ein markantes Beispiel für erfolgreiche Integration: "Das Miteinander von christlicher und jüdischer Gemeinde scheint hier bis zum 14. Jahrhundert ungewöhnlich gut gewesen zu sein." Nach einem Pogrom von 1349 habe die Michaeliskirche das Erbe der damals profanierten Synagoge am Benediktsplatz übernommen, ergänzt Garbe.

 

 Erste Hinweise auf Juden in Thüringen reichen zurück bis ins 10. Jahrhundert. Allein für Erfurt sind Synagogen an sechs Standorten nachgewiesen. Das jüngste jüdische Gotteshaus feierte in diesem Jahr in der Landeshauptstadt sein 50-jähriges Bestehen. Doch das am 31. August 1952 eingeweihte Gebäude ist wegen seiner anspruchslosen und nüchternen Wohnhausarchitektur noch heute vielen Erfurtern als Ort religiöser Feiern schlicht unbekannt.

 

 Nachdem die Synagoge von 1884 im Pogrom von 1938 in Schutt und Asche gelegt worden war, wurde mit dem Neubau die Erinnerung an den Vorgängerbau im Stadtbild endgültig ausgelöscht. Ursprünglich war der jüdische Neuanfang nach Krieg und Holocaust in Erfurt ganz anders geplant. Die Grundsteinlegung für eine neue Synagoge am zehnten Jahrestag der "Kristallnacht" 1948 blieb zwar für die jüdische Gemeinde unerfüllte Hoffnung auf eine Geste der Versöhnung. Doch in den Planungen ging es - zumindest anfangs - stets um einen deutlich erkennbaren Sakralbau.

 

 Vorgesehen war ein großer Rundbau mit flacher Kuppel und einem Betsaal mit 300 Plätzen. Auch spätere Entwürfe gingen noch von einem repräsentativen Gebäude aus. Unmittelbar vor der Grundsteinlegung im August 1951 teilte jedoch der Architekt Willy Nöckel der Gemeinde "einen neuen Bebauungsplan für diesen Stadtteil" mit, an den sich auch der Neubau anpassen müsse. Schließlich sei "gewünscht" worden, "dass die Synagoge äußerlich keinen auffallend religiösen Charakter zeigt".

 

 Die Erfurter Synagoge war der erste Neubau eines jüdischen Gotteshauses in der DDR und sollte bis 1989 der einzige bleiben.

 Begegnungsstätten wie die ehemalige Synagoge in Mühlhausen und die "Kleine Synagoge" in Erfurt konnten erst in den vergangenen Jahren renoviert werden. So sind Spuren jüdischen Lebens in Thüringen zumeist beschränkt auf die 34 erhaltenen Friedhöfe. Mit deren Pflege stößt die Landesgemeinde jedoch nach Einschätzung Nossens an die Grenzen der finanziellen Möglichkeiten. Zudem müsste das Gotteshaus in Berkach bei Meiningen "dringend saniert" werden, fügt er hinzu. Doch Nossen weiß auch, dass die Landesgemeinde dazu allein nicht in der Lage sein wird.

 

 i In der Pogromnacht des 9. November 1938 wurden in Deutschland die jüdischen Gotteshäuser niedergebrannt, Geschäfte, Wohnungen und Friedhöfe jüdischer Mitbürger zerstört - auch die Erfurter Synagoge wurde vernichtet. Zu DDR-Zeiten wurde zwar dort die einzige neue Synagoge errichtet, doch durfte sie nicht als religiöser Ort wahrgenommen werden - sie hatte sich, so die offizielle Lesart, - dem neuen Innenstadtviertel anzupassen. So ist der allzu nüchtern wirkende Bau bis heute bei vielen Bürgern kaum als Ort religiöser Versammlungen bekannt. Die Jüdische Gemeinde in Thüringen ist nach der Wende angewachsen. Doch - obwohl im Vorjahr in Erfurt ein modernes Kulturzentrum eröffnet werden konnte und in den letzten Jahren Begegnungsstätten in Mühlhausen und Erfurt entstanden - erweist sich die Wiederbelebung des jüdischen Lebens im Freistaat als ein äußerst langwieriger Prozess.

 

 08.11.2002 Von Thomas Bickelhaupt

 

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FREITAG: der 8. November 2002

Harald Schmid - Sprachstreit im Novemberland

"REICHSSCHERBENWOCHE" Datum, Deutung und Erinnerung des Novemberpogroms von 1938

 

Wo war Ihr Herr Vater am 9. November 1938, nachts?" "Wie ›nachts‹? Was war damals nachts?" Dieser Wortwechsel aus Christian Geisslers Roman Anfrage (1960) steht in charakteristischer Weise für die Auseinandersetzung um ein deutsches Datum, das dieses Land nach 1945 nie wirklich losgelassen hat. War doch der kalendarische Erinnerungsort "9. November 1938" in den letzten Jahrzehnten ein Zentrum generationeller Gewissenserforschung und öffentlicher Vergangenheitsklärung, das die Schuld- und Verantwortungsfrage konkret stellt.

 

 Was soll erinnert werden?

 

 Hier geschah das Verbrechen nicht im von Gerüchten umrankten "Osten", sondern vor Ort, oft unmittelbar in der Nachbarschaft: der häufig mit Gewaltorgien verbundene Überfall auf die Juden, von denen zunächst knapp einhundert ermordet wurden; die Verhaftung von über 26.000 Männern, wovon über tausend die Wochen und Monate in der barbarischen Lagerwelt nicht überlebten; die Zerstörung und Plünderung eines Großteils der sozialkulturellen Infrastruktur jüdischen Lebens:

Synagogen, Geschäfte, Friedhöfe, Wohnungen, Schulen, Alters- und Waisenheime. Gerade aufgrund der Öffentlichkeit dieser brachialen Gewalt wurde das Novemberpogrom schon bald als Schlüsseldatum zur Interpretation der gesamten NS-Judenverfolgung und des Verhaltens der Bevölkerung verstanden.

 

 Doch die Erinnerung an das Geschehen vor nun 64 Jahren wirft Fragen an das öffentliche Geschichtsbild und die Geschichtspolitik auf. Welche Ereignisse gehören in den unmittelbaren Zusammenhang des Pogroms und damit des Gedenkens: Auch das vorhergehende Attentat des verzweifelten Herschel Grynszpans auf Ernst vom Rath, den Legationssekretär an der deutschen Botschaft in Paris? Auch die den Anschlag auslösende Massendeportation von etwa 17.000 polnischstämmigen Juden? Und welches Datum soll erinnert werden: nur der 9. November, auch der folgende Tag oder gar die drei Tage vom 8. bis zum 10. November? Schließlich: Welcher Eigenname soll das Geschehen bezeichnen: "Reichskristallnacht"?

 

 Antworten auf diese Fragen beschreiben den komplexen geschichtskulturellen Zusammenhang von Ereignis, dessen Benennung und Datierung, seiner historisch-politischen Deutung und öffentlichen Vergegenwärtigung. Im verkürzenden Gedenken gehen diese Verbindungen aber oft wieder verloren. An der Entwicklung der Sprache, einem der wichtigsten Orte der Konstruktion von Geschichte, lässt sich zeigen., wie ursprünglich bloß abkürzende Überschriften im Laufe der Zeit zu Inhalten gerinnen. Beispielsweise die schon seit der Nachkriegszeit verbreitete Wendung "als die Synagogen brannten".

 Obgleich eines der bedeutsamsten Ereignisse des Pogroms transportierend, ist hier von der Gewalt gegen Menschen, von den Morden und Tätern keine Rede. So trug der Topos mit dazu bei, ein insbesondere moralisch verkürztes Bild scheinbar anonym entzündeter Synagogen im kollektiven Gedächtnis zu festigen. Das sarkastische Diktum des Historikers Jörg Friedrich, wonach der "Schleier über der Tat der Preis der Humanisierung der Täter" gewesen sei, ist folglich auch sprachgeschichtlich zu bedenken - wenn man nicht vergisst, daß es anfangs lebensgefährlich sein konnte, das Verbrechen offen als solches zu benennen.

 

 Naziwort oder Oppositionsbegriff?

 

 Sind die Begriffe "Kristallnacht" und "Reichskristallnacht" zeitgenössischen Ursprungs? Sind sie Teil der Lingua Tertii Imperii oder ein Niederschlag der verdeckten Kritik der Bevölkerung an den Pogromen? Gerade die populäre Annahme, sie entstammten dem "Jargon der Mörder" (so Willy Brandt in einer Gedenkrede zum 44. Jahrestag), sorgt für regelmäßige Kritik an ihrer unreflektierten Verwendung. Schon die Wörter gelten vielen als zu gefährlich und deren Gebrauch als Zeichen der Verdrängung des eigentlichen Geschehens.

 Die Gegenposition vertritt freilich mit ebensolchem Nachdruck die Überzeugung, "Reichskristallnacht" sei keinesfalls ein "Naziwort, sondern ein Begriff der Opposition" (Günther Gillessen) gewesen.

 

 Während die Auffassung, der Berliner Volksmund habe schon im November 1938 infolge der mit Scherben der zerstörten Schaufenster übersäten Straßen den Ausdruck "Reichskristallnacht" geprägt, nie belegt werden konnte, ist die Gegenthese inzwischen besser fundiert.

 Denn im Deutschen Rundfunkarchiv lagert ein Tondokument, worin ein NS-Funktionär am 24. Juni 1939 in einer Rede auf dem Gautag des Gaus Hannover-Ost der NSDAP in Lüneburg den verstümmelten, aber aussagekräftigen Satz formuliert: "Nach der Reichskristallnacht voriges Jahr, am 11. November [sic], sehen Sie, also die Sache geht als Reichskristallnacht in die Geschichte ein (Beifall, Gelächter), Sie sehn, das ist humoristisch erhoben, nicht wahr, schön." Nur wenige Tage später erwähnte ein Zeitgenosse unter dem Datum des 4. Juli 1939 in seinem Tagebuch die "schwarzen Novembertage 1938, die Reichsscherbenwoche".

 

 Zwei Prägungen fast zur selben Zeit. Damit ist zwar nachgewiesen, dass der Begriff in der Funktionärsriege öffentlich benutzt wurde (und vielleicht den "Volksmund" instrumentalisierte); gleichzeitig spricht viel für die parallele, regimeferne Suche nach treffenden Ausdrücken.

 Tatsächlich verweisen alle Belege auf eine Vielfalt von Begriffsbildungen, die unter dem Eindruck der Verfolgungen seit dem November 1938 entstanden und die sich bis in die ersten Nachkriegsjahre behaupten konnten. So finden sich in den Quellen verschiedene, an die jeweilige soziale Gruppe und deren Perspektive gebundene Begriffe. Die Täter und NS-Dienststellen benutzten propagandistisch gefärbte Ausdrücke wie Judenaktion, Novemberaktion, Vergeltungsaktion, Sonderaktion und (Protest-)Kundgebungen. In den Konzentrationslagern, in die die verhafteten Juden verschleppt wurden, sprach man unter Aufnahme des vorausgehenden Attentats von der "Rathaktion", und aufgrund der exzessiven Gewalt gegen die eingelieferten Juden von einer "Mordwoche". Sowohl die Deutschland-Berichte der Exil-SPD als auch das KPD-Blatt Die Rote Fahne verwandten den historisch bekannten, unmissverständlichen Begriff "Judenpogrome". In Tagebüchern ist unmittelbar nach dem Angriff auf die Juden von "Grünspan-Affäre" (Victor Klemperer) oder von "Bartholomäusnacht" (Walter Tausk) die Rede.

 

 Viele Augenzeugen der Judenverfolgung erinnerten sich aber auch an andere damals umlaufende Begriffe, etwa Glasnacht, Gläserner Donnerstag, Nacht der langen Messer, Zehnter November. In Texten der ersten Nachkriegsjahre finden sich Ausdrücke wie Tag der (deutschen) Scherbe, Reichsscherbenwoche, (Reichs-)Kristallwoche, Judennacht, Pogromnacht, Novemberpogrom, Synagogensturm, Synagogenbrand, Reichstrümmertag, Reichskristalltag, Verfolgungswoche, Novembernacht, Synagogenstürmernacht.

 

 Dass ein reichsweites Ereignis eine solche Bezeichnungsvielfalt nach sich zog, ist auch eine bezeichnende Vielfalt und zeigt: dass es von sehr vielen Menschen als ein außerordentliches, zu besonderer Benennung drängendes Geschehen wahrgenommen wurde. Häufig wird das Ereignis auf die eine Nacht begrenzt, worin sich zum einen ein realer Aspekt der Verfolgungswelle niederschlägt, zum anderen aber auch eine moralische Ausweichbewegung erkennbar wird. Verschiedentlich wurde ein ganzer Tag, mitunter gar eine ganze Woche erinnert - dass die Verfolgungen mancherorts schon am 7. November einsetzten, ihren zentral gesteuerten und reichsweiten Höhepunkt in den frühen Morgenstunden des 10. November erreichten und dann teilweise noch tagelang andauerten, ist belegt. In den Komposita mit "Reich" spiegelt sich die Ausdehnung des Terrors auf das gesamte Staatsgebiet. In der Lesart subversiver Intention begegnete der Begriff damit der offiziellen Behauptung, in der Nacht habe sich der "spontane Volkszorn" entladen und persiflierte - für zeitgenössische Ohren kaum überhörbar - die auftrumpfende NS-Propagandasprache. Eher selten und nur andeutungsweise wurden die angegriffene soziale Gruppe und die gegen sie ausgeübte mörderische Gewalt direkt erwähnt.

 

 Prozess vorsätzlicher Selbsttäuschung

 

 "Kristallnacht" musste sich auf seinem Weg zu einem der Signalwörter der Erinnerungskultur jedoch nicht nur gegen die anfängliche Begriffsvielfalt, sondern auch gegen eine kontinuierliche Begriffskritik behaupten. Schon am zehnten Jahrestag 1948 kritisierte die "Notgemeinschaft der durch die Nürnberger Gesetze Betroffenen" (eine heute in der Öffentlichkeit fast vergessene Verfolgtenorganisation): "Ehe es soweit ist, dass sich dieses falsche Wort im allgemeinen Sprachgebrauch so eingebürgert hat, dass es nicht mehr wegzubringen ist, möchten wir darauf hinweisen, welche Entstellung mit der Benutzung dieses Wortes verbunden ist. Das Wort ›Kristallnacht‹ ist nicht von den früher Verfolgten erdacht und in den Sprachgebrauch gebracht worden." Für die Betroffenen und Mitfühlenden von damals "bedeutet dieses Wort eine Verkleinerung, ja Verniedlichung des Geschehens", denn hinter den allgemein in Erinnerung gebliebenen Geräuschen zerborstenen Glases "stand doch (...) das unheimliche Knistern der brennenden Synagogen, das Weinen und Schreien der Misshandelten und das vergossene Blut". Fünf Jahre später schrieb die FAZ, der Begriff sei "selbst ein Bestandteil in jenem Prozess vorsätzlicher Selbsttäuschung" gewesen, "der ein ganzes Volk jahrelang betäubte".

 

 Die tradierten euphemistischen Implikationen von "Reichskristallnacht" zeigten durchaus Wirkung. Wie anders ist es zu erklären, wenn beispielsweise in Rudolf Weber-Fas´ Buch Das kleine Staatslexikon (1995) - vor zwei Jahren als Taschenbuch bei Suhrkamp nochmals mit dem expliziten Ziel aufgelegt, "das Gedächtnis auffrischen und Klarheit schaffen" zu wollen - das Stichwort "Kristallnacht" nur als eine "von Goebbels als ›spontane Kundgebung‹ veranlasste Pogromnacht" erläutert wird, "wobei NS-Trupps u.a. die Fensterscheiben und Lampen zahlreicher jüdischer Geschäfts- und Wohnhäuser zerstörten".

 Fensterscheiben und Lampen! Das zerstörte Leben der Juden hat sich hier ins "unter anderem" verflüchtigt.

 

 Freilich gehörte die distanzierende Verwendung des Ausdrucks in Gedenkreden und Zeitungsartikeln vor allem seit den siebziger Jahren nicht nur zum guten Ton, man wusste durchaus um die Problematik - Geschichte in Anführungszeichen. Seit dem 40. Jahrestag 1978, dem ersten wirklich gesellschaftsweit zelebrierten Jahrestag, war deshalb in begriffskritischer Absicht und zum Zwecke politischer Korrektheit zunehmend auch von "Reichspogromnacht" die Rede, zehn Jahre später so häufig, dass der Ausdruck 1988 zu einem der "Wörter des Jahres" bestimmt wurde. Manche sahen darin freilich eher ein "Unwort", komme es doch einer gutgemeinten "Verschlimmbesserung" gleich. Durchaus spiegelbildlich und zeitgleich zu diesem westdeutschen Neologismus bemühte sich die DDR-Propaganda mit ihrer Sprachregelung von der "faschistischen Pogromnacht" um semantisch-ideologische Eindeutigkeit.

 

 

 Gewiss, in politischer Hinsicht bleibt "Reichskristallnacht" dubios:

 Versteht man den Begriff als Bestandteil des "Wörterbuchs des Unmenschen", so verbietet sich eine distanzlose Übernahme ohnehin; nimmt man ihn als historischen Ausdruck, der er ja tatsächlich ist, so ist er zwar wissenschaftlich unverzichtbar, doch stellt sich das Problem, dass er jedenfalls für Nachlebende das Ereignis selbst eher verdeckt.

Doch das Wort bleibt auch ein nützlicher sprachlicher Stolperstein.

 Denn die scheinbar bloß etymologische und semantische Kontroverse führt geradewegs zum Gespräch über die ganze NS-Vergangenheit, den kritischen Umgang mit ihr und das Bemühen um moralische Genauigkeit - auch in der heutigen Benennung politischer Verbrechen. So wird uns dieser Sprachstreit im "Novemberland" (Günter Grass) weiter begleiten.

 

 

 Harald Schmid ist Politologe in Hamburg und Lehrbeauftragter an der Universität Hamburg. Zuletzt erschien von ihm Erinnern an den "Tag der Schuld". Das Novemberpogrom von 1938 in der deutschen Geschichtspolitik, Ergebnisse-Verlag, Hamburg 2001

 

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Hamburger Abendblatt: 7. November 2002

Samstag, 9. November 2002

Norderstedt: Vortrag über Juden in Hamburg

 

 Norderstedt - Am 9. November 1938 erprobten die Nationalsozialisten mit der "Reichs-Kristallnacht" die Akzeptanz der Deutschen zur Verfolgung der Juden. Diese Reich-Pogromnacht wurde zum Auftakt des Holocaust. Mit dem Dia-Vortrag "Wir werden nicht mehr voneinander hören: Die Deportation der Hamburger Juden" von Michael Grill am heutigen Donnerstag, 20 Uhr, in der Schalomkirche am Lütjenmoor 13 erinnern der Verein "Chaverim - Freundschaft mit Israel" und die Norderstedter Kirchengemeinde Schalom-Vicelin an die Pogromnacht. Der Eintritt (nur Abendkasse) kostet vier, Schüler zwei Euro.

 

 lin - erschienen am 7. Nov 2002 in Norderstedt

 

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Der Standard: 5. November 2002

Zeuginnen aus Ravensbrück berichten

Am Sonntag sind Frauen im Volkstheater zu Gast, die das Konzentrationslager überlebt haben.

 

Wien - Bereits zum zehnten Mal berichten Zeuginnen und Zeugen im Volkstheater von der vergangenen, grausamen Zeit des Nationalsozialismus. Am kommenden Sonntag um elf Uhr sind Frauen zu Gast, die das Konzentrationslager Ravensbrück überlebt haben.

 

 Ravensbrück gehörte zu den schrecklichsten Stätten der "Endlösung" während der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft: Über 130.000 Frauen und 20.000 Männer wurden in dieses Lager deportiert und ermordet.

 

 Die Theatergruppe "B-project" veranstaltet in Kooperation mit dem Verband Wiener Volksbildung diese Gespräche zur Erinnerung an die "Kristallnacht" am 9. November des Jahres 1938. (aw/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 6. 11. 2002)

 

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Sächsische Zeitung: Samstag, 9. November 2002

Morde an jüdischen Häftlingen in Kamenz

Weitere Forschungsergebnisse zum KZ im Herrental – Von Dr. Walter Strnad

 

 Vor 64 Jahren, am 9. November 1938, inszenierten die Faschisten in Deutschland die berüchtigte Kristallnacht. Es war der Anfang der nazistischen „Endlösung der Judenfrage“. Auch in der Lessingstadt Kamenz vollzogen sich zahlreiche Gräueltaten und Morde an jüdischen Menschen besonders im KZ-Außenlager zwischen November 1944 und März 1945.

 

 Zu den namentlich bekannten Häftlingen, die in Kamenz interniert waren und zugleich Zwangsarbeit im Flugzeugmotoren-Teilwerk der Daimler-Benz-AG leisten mussten, gehörten wahrscheinlich 67 der jüdischen Volksgruppe an.

 Ihrer staatlichen Zugehörigkeit nach kamen die meisten aus Polen und Ungarn. Einzelne stammten aus Deutschland, Tschechien und Rumänien. Das Alter der jüdischen Häftlinge lag zwischen 17 und 46 Jahren. 63 von ihnen hatten einen Metall-Facharbeiterberuf wie Schlosser, Fräser, Nieter, Schweißer, Elektriker, Schleifer oder Mechaniker. Insofern ist diese alters- und berufsmäßige Struktur ähnlich der der anderen Kamenzer Häftlingsgruppen.

 

 SS und Daimler-Benz handeln Hand in Hand

 

 Aus ihren Biografien ist weiterhin ersichtlich, dass sie bereits vor dem KZ Kamenz in anderen Lagern interniert waren. Sie kamen im Januar 1945 aus dem Konzentrationslager Flossenbürg (Bayern). Doch zuvor waren viele von ihnen im polnischen Rzeszow (Reichshof) der deutschen Besatzungsmacht ausgeliefert. Dort befand sich von 1942 ein deutsches Flugzeug-Motoren-Werk, dessen Produktion von polnischen Zwangsarbeitern abgesichert wurde. In der Stadt Rzeszow hatten die deutschen Nazis ein spezielles jüdisches Zwangsarbeitslager eingerichtet. Es war direkt der Waffen-SS unterstellt und dem Flugzeugwerk (ebenfalls Daimler-Benz) zugehörig. SS-Männer sowie Meister und Ingenieure teilten sich die Aufsicht über die jüdischen Zwangsarbeiter innerhalb der Werkstätten.

 

 Die Veränderungen der Fronten des Krieges führten zur Verlagerung des Motorenwerkes in Richtung Westen. Damit erreichte die brutale Verfolgungspraxis gegen die dortigen Juden einen weiteren schlimmen Höhepunkt. SS-Führung und Betrieb entschieden über die weitere Deportation der jüdischen Zwangsarbeiter. „Nicht mehr geeignete“ Zwangsarbeiter kamen direkt nach Auschwitz bzw. in andere Vernichtungslager. Die andere Gruppe der noch Arbeitsfähigen brachte man in westlich gelagerte Rüstungsbetriebe, darunter auch ins elsässische Colmar, wo sich ein Betrieb gleicher Produktion befand. Das war keineswegs die letzte Station. Die Odyssee durch Europa ging weiter. Es begann eine noch krassere Zäsur für die jüdischen Zwangsarbeiter. Sie wurden jetzt in den Status eines KZ-Häftlings überführt – zumeist durch eine Überstellung in das KZ Flossenbürg. Sie erhielten eine Häftlingsnummer und die Winkelbezeichnung auf dem Davidstern. Damit waren sie völlig schutzlos der Mordwillkür der SS ausgesetzt.

 

 Man brachte sie am 26. Januar 1945 ins neu eingerichtete KZ-Außenlager nach Kamenz, Herrental Nr. 9. Sie waren jetzt KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter zugleich und der SS-Führung des KZ Gross-Rosen (bei Legnica) unterstellt. Ihre Zwangsarbeitsstelle wurde wiederum ein Flugzeug-Motoren-Werk die „Elster GmbH“ im Bereich der Kamenzer Glashütte. Selbst der deutsche Personalleiter, ein gewisser Herr Rahmig, war wiederum für die Fachkräfte-Auswahl, wie schon in Rzeszow und Colmar, zuständig.

 

 Die Fortführung der Zwangsarbeit und die dauernde Brutalität seitens der etwa 33 SS-Bewacher sowie das enorme Hungern im Lager führte auch unter den Juden zu vielen Todesopfern, besonders zwischen dem 25. Januar und 10. März 1945. Nicht mehr von Kamenz weg kamen etwa 15 bis 17 jüdische Häftlinge (siehe unten stehend). Hinzu kommen weitere Tote während des Transportes vom 10. bis 16. März ins KZ Dachau (Bayern).

 Aus Berichten jüdischer Überlebender aus Kamenz geht hervor, dass Mitte April 1945 eine weitere grausame Vertreibung ehemaliger Kamenzer Häftlinge in Richtung österreichische Alpen erfolgte. Unter denen, die während des Fußmarsches erschlagen wurden, befanden sich ebenfalls jüdische Männer aus dem Lager Kamenz. Eine exakte Bestimmung der Geschehnisse und Morde wird durch einen Befehl von SS-Führer Himmler erschwert. Danach war es ab Mitte 1944 verboten, für aus rassischen Gründen Verfolgte und ebenso aus Ostländern stammende KZ-Insassen eine Totenregistrierung vorzunehmen.

 

 

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