Juden in Berlin - Jews in Berlin
Jüdisches Museum
(Pressemeldungen zur Eröffnung)
Donau Kurier Vermischtes 15.9.2001
Jüdisches Museum für das Publikum geöffnet
Berlin (dpa) - Das Jüdische Museum Berlin hat am Donnerstagmorgen erstmals für das breite Publikum seine Tore geöffnet. Bereits vor zehn Uhr hatte sich eine kleine Schlange vor dem Libeskind-Bau in Berlin-Kreuzberg gebildet, sagte eine Museumssprecherin. Das Museum soll an sieben Tagen in der Woche von 10.00 bis 20.00 Uhr geöffnet bleiben. Die Veranstaltungen anlässlich der Museumseröffnung, die für die nächsten Tage - vom 13. September bis zum 17. September - geplant sind, werden wie angekündigt stattfinden. Die geplante Publikumsveranstaltung bei freiem Entritt am Dienstagabend war aus Trauer und Anteilnahme an den tragischen Ereignissen in den USA verschoben worden.
Als wichtigen Beitrag für das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden in Deutschland hatte Bundespräsident Johannes Rau das neue Museum in Berlin bei der Eröffnungsfeier am Sonntagabend bezeichnet.
DONAUKURIER, 13.09.2001
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EXPRESS Vermischtes 15.9.2001
Jüdisches Museum Berlin wird eröffnet
Geschichte im Zick-Zack-Bau - von Esteban Engel
Berlin (dpa) - Als das Jüdische Museum Berlin noch leer stand, strömten Hunderttausende in den bizarren Zick-Zack-Bau des US- Architekten Daniel Libeskind.
Wenn an diesem Sonntag (9.9.) das Haus mit seiner Dauerausstellung eröffnet wird, erhält die deutsche Hauptstadt einen neuen Publikumsmagneten.
Museumsdirektor W. Michael Blumenthal gibt sich mit Einzelheiten zu der Schau mit ihren mehr als 3900 Exponaten bis zuletzt reserviert. "Sie würden nur über Kabel stolpern", begründet er das Verbot für eine Vorbesichtigung.
Erst nach einem Konzert mit Daniel Barenboim und dem Chicago Symphony Orchestra will der frühere US-Finanzminister 850 Gäste aus aller Welt erstmals durch den eingerichteten Libeskind-Bau führen.
Zu dem Festakt werden unter anderem Bundespräsident Johannes Rau, Bundeskanzler Gerhard Schröder und der frühere US-Außenminister Henry Kissinger erwartet. Für die Zeit danach richten sich die Museumsleute auf einen Ansturm ein: Bis zu 6000 Besucher täglich sollen an 363 Tagen im Jahr die Ausstellung über 2000 Jahre deutsch-jüdische Geschichte besichtigen können.
Nicht der Holocaust steht im Mittelpunkt des Museums, auch wenn die Ermordung der Juden einen zentralen Platz einnimmt. "Das Jüdische Museum ist ein deutsches Geschichtsmuseum", sagt Blumenthal. "Man kann die deutsche Geschichte nicht ohne den Holocaust erzählen."
Schon das als zerborstener David-Stern für 120 Millionen Mark (61,3 Mio Euro) errichtete Museumsgebäude in Berlin- Kreuzberg ist ein deutlicher Hinweis auf den Massenmord. "Doch unsere Aufgabe als Staatsmuseum ist es auch, die Besucher daran zu erinnern, dass die deutschen Juden normale, schaffende Bürger waren."
Bis zuletzt hatten der Museumsgestalter Ken Gorbey und dutzende Wissenschaftler und Techniker an der 3000 Quadratmeter großen Ausstellung gefeilt. "Es war ein Wettlauf gegen die Zeit", sagt der 59-jährige Neuseeländer, der sich als Gestalter des Te-Papa-Nationalmuseums seiner Heimat einen weltweiten Ruf erworben hat.
Gorbey hat die Berliner Schau als "erzählendes Museum" konzipiert und dabei auch nicht auf Multimedia verzichtet.
Das hat ihm den Verdacht eingetragen, er plane ein "jüdisches Disneyland". Doch Gorbey weist die Kritik zurück: "Das alte Museum behauptet stets, alles besser zu wissen als der Besucher."
Mit modernen Mittel sollen vor allem Menschen angelockt werden, die sonst nicht ins Museum gehen - die Jugendlichen und auch ihre Großeltern.
"Im Mittelpunkt der Ausstellung steht die Frage: Was bedeutet es, heute ein Jude zu sein", sagt Blumenthal. Auf 13 Stationen wird mit Objekten aus dem Alltag, Dokumenten und Kunstwerken das Leben der Juden in Deutschland nacherzählt - von den Anfängen unter den Römern, dem Leben im Mittelater bis hin zur gescheiterten Integration im 19. Jahrhundert, der Aufbruchstimmung in der Weimarer Republik und der Verfolgung unter den Nazis. Zum Abschluss wird das Leben der Juden im heutigen Deutschland dargestellt.
Als erstes Originalobjekt stoßen die Besucher beim Rundgang auf eine im 10. Jahrhundert entstandene Abschrift eines Dekretes aus dem 4. Jahrhundert. In diesem sehr frühen Dokument über jüdisches Leben in Deutschland hatte der römische Kaiser Konstantin die Juden von Köln aufgefordert, sich trotz religiöser Pflichten an der Gemeindearbeit zu beteiligen.
Neben Kultgegenständen wie beispielsweise Beschneidungsbesteck für junge Knaben aus mehreren Epochen sind auch Alltagsobjekte zu sehen - von den Brillengläsern des Philosophen Moses Mendelssohn (1729-1786) bis zu Preisschildern aus dem Kaufhaus Wertheim. Als Beispiel für das moderne jüdische Leben sind Kühlschrank-Sticker für die Trennung von koscherem Essen oder Barbie-Puppen in jüdischer Hochzeitstracht ausgestellt. "Wir wollen das Leben der Juden in seiner Vielfalt zeigen und nicht nur als Opfer der Geschichte", sagt Blumenthal.
Der 1926 in Oranienburg bei Berlin geborene Museumsdirektor kehrte 1997 als Retter in der Not in seine frühere Heimat zurück. Damals drohte das Projekt an der Frage zu scheitern, ob das Museum autonom oder Teil der Berliner Stadtmuseums sein sollte. Blumenthal setzte sich erfolgereich für die Autonomie ein und führte es schließlich in die Obhut des Bundes über, der jährlich 25 Millionen Mark zahlt.
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Neue Zürcher Zeitung Vermischtes 15.9.2001
Ein Gedächtnis für die Zukunft
Zwei Jahrtausende deutsch-jüdische Geschichte in Berlin
Die Eröffnung des Jüdischen Museums wurde überschattet von den Terroranschlägen in den USA. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges fühlen sich die Berliner mit den Amerikanern eng verbunden. So blieben viele kulturelle Einrichtungen geschlossen, auch das Jüdische Museum an den ersten beiden seiner vorgesehenen Eröffnungstage. Seit Donnerstag ist es nun allen zugänglich.
Ein Vierteljahrhundert dauerte es von der Idee eines Jüdischen Museums für das damalige Westberlin über das integrative Modell einer jüdischen Abteilung innerhalb des Stadtmuseums bis zur Eröffnung einer eigenständigen Institution.
Durch die Wende kam dem Projekt unvermittelt eine nationale Bedeutung in der neuen alten Hauptstadt zu; aber erst in den vergangenen vier Jahren nahm es Gestalt an. Der Direktor Michael Blumenthal hat es mit weltläufiger Souveränität befördert. Der Architekt Daniel Libeskind hat es mit seiner spektakulären Architektur in die Wirklichkeit geholt.
Diesen Erfolg muss man hochhalten in Anbetracht der zögerlichen Entwicklung der beiden anderen grossen Erinnerungsprojekte in der Stadt, des Holocaust-Denkmals und der Mahnstätte «Topographie des Terrors».
Seit der Einweihung des Libeskind-Baus vor zweieinhalb Jahren pilgerten 350 000 Besucher durch das leere Haus. Die expressive Architektur wurde in kurzer Zeit zum übermächtigen Symbol, so dass manche seine Funktionstüchtigkeit als Museum bezweifelten oder die Freihaltung des Hauses von Exponaten als Gleichnis für den unwiederbringlichen Verlust jüdischen Lebens forderten. Die nun eröffnete Dauerausstellung widerlegt die Einwände, wonach sich die eigenwillige Architektur mit ihrem verzerrten Grundriss und ihren intensiven Raumerlebnissen nicht als Ausstellungsgebäude eigne. Sie macht allerdings auch deutlich, dass der Bau nach einem subtilen Umgang und einer Reduktion der gestalterischen Mittel verlangt.
Man betritt das Museum durch das barocke Kollegiengebäude und gelangt über eine Treppe ins Untergeschoss, wo sich die «Achse des Holocausts» und die «Achse des Exils» kreuzen. In einer Reverenz an die Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem, in der Namen gegen das Vergessen stehen, sind den Wänden die Orte der Vernichtung und der Zuflucht eingeschrieben. Dazwischen, hinter Glas, zwei, drei letzte Dinge, Spuren eines Schicksals. Der Inhalt einer Brieftasche, welche die jüdischen Nachbarn bei ihrer Deportation noch schnell vom Wagen warfen, zwei Passfotos, eine Visitenkarte; die zurückgebliebene Hausbewohnerin hat sie aufgehoben zum Gedächtnis. In der «Achse des Exils» betrachtet man die fünf Reisepässe der Irma Markus, ausgestellt zwischen 1939 und 1960 in verschiedenen Städten der Welt - Zeugnisse einer Identität, die mit Stempeln beglaubigt ist und in der Fremde doch verloren zu gehen droht.
Gute Ansätze in 13 Kapiteln
Mit dem stillen Auftakt haben sich die Ausstellungsmacher ganz nach der Architektur gerichtet. Im Weiteren legten sie diesen Willen zur Beschränkung ab. Schon dem «Memory Void», einem jener hermetischen Betonschächte, die das Gebäude durchschlagen, glaubte man, einen Inhalt geben zu müssen: Die Installation «Shalechet» (Gefallenes Laub) des israelischen Künstlers Menashe Kadishman besteht aus 10 000 Eisenscheiben am Boden: 10 000 Gesichter mit weit aufgerissenen Mündern. Das Kunstwerk wirkt geschmäcklerisch und konterkariert den von der Architektur beschworenen Verlust.
Ein wenig von der anfänglichen Zurückhaltung hätte dem Hauptteil der Schau in den beiden Obergeschossen gut getan - nicht nur in Anbetracht der sich konkurrenzierenden Exponate, sondern auch was die aussergewöhnliche Architektur anbelangt, die nun hinter all den Einbauten, eingezogenen Wänden, abgehängten Decken und unmotiviert die Räume verstellenden Treppen kaum mehr erkennbar ist. Die Ausstellung auf 3000 Quadratmetern Fläche zeichnet streng chronologisch entlang von 13 Kapiteln und anhand von 3900 Exponaten (davon rund 1600 Originale und 560 Leihgaben) die Spuren jüdischen Lebens im Kontext jüdischer und deutscher Geschichte von der Römerzeit bis heute nach.
Einen Reigen von Handschriften präsentiert der Abschnitt über das Mittelalter. «Das Buch Sinai» aus dem Jahr 1391 des Rabbiners Meir ben Baruch aus Rothenburg gibt als eines der ältesten erhaltenen Dokumente jener Zeit Einblick in die religiöse Gedankenwelt der Juden. Worms, Speyer und Mainz stehen für frühe jüdische Gemeinden. Mit Photographien ist die Geschichte der Wormser Synagoge, des ältesten jüdischen Gotteshauses in Mitteleuropa (bis zu seiner Zerstörung 1938), nacherzählt. Dabei verpasst man die Chance eines kurzen Abrisses zur Synagogenarchitektur im Allgemeinen und lässt den nach dem Krieg wieder errichteten Sakralbau lieber im raumgreifenden Hauskino als 3D-Animation durch die mittelalterliche Stadt schweben. Die kostbare vorübergehende Leihgabe des Apostolischen Museums in Rom wurde dagegen so unscheinbar zwischen andere Exponate placiert, dass man sie kaum findet: Die Abschrift (10. Jh.) eines Dekrets von Kaiser Konstantin aus dem Jahr 321 belegt die Existenz von jüdischen Bürgern im römischen Köln.
Der Wille zur Unterhaltung
Hier zeigen sich schon die Schwächen des Konzeptes, das vor allem unterhaltend und anschaulich sein will. Vieles wird kurz gestreift, ohne Akzentuierung präsentiert man eine auf die Länge ermüdende, bunte Gleichförmigkeit. In nur eineinhalb Jahren musste die Ausstellung eingerichtet werden; der aus Neuseeland berufene Projektleiter Ken Gorbey macht selbst kein Hehl daraus, dass noch einiges verbessert und vertieft werden muss.
Unverständlich ist, warum in einem Berliner Museum die jüdischen Aufklärer um Moses Mendelssohn keinen adäquaten Raum erhalten haben. Kaum deutlich wird, wie beschwerlich der Weg in die Emanzipation, Assimilation und in den Aufstieg ins Bürgertum zwischen 1870 und 1933 war. Und die Wechselbeziehung von jüdischen und nichtjüdischen Intellektuellen findet sich gerade einmal im Bonmot von Henriette Herz: «Der Geist ist ein gewaltiger Gleichmacher.» Dagegen feiert man die Berliner Kaufhauskultur, die sich mit den Namen Wertheim und Tietz und dem Kaufhaus des Westens («KaDeWe») verbindet, ausgiebig mit Leuchtschriften und aufgeblasenen Bildern. Für die Tatsache, dass sich die Juden von der bürgerlichen Gesellschaft kaum unterscheiden, gibt es eine ganze Wand, tapeziert mit anonymen Familienporträts als Zeitbildern. Nicht dargelegt wird der interne Streit zwischen Orthodoxen und Reformern. Den Zionismus vertritt das Porträt von Theodor Herzl. Für den vom Gesellschaftlichen sich zunehmend ins Ideologisch- Politische verfestigenden Antisemitismus steht, völlig unkommentiert, Julius Langbehns Werk «Rembrandt als Erzieher». Die Rolle eines Vorläufers, die Langbehns Ausrottungsjargon für die nationalsozialistische Rassenideologie spielte, wird nicht thematisiert.
Damit unterwandert die Schau letztlich ihren eigenen populären Anspruch, «für ein sehr breites Publikum» etwas Aufklärendes bieten zu wollen.
Aus schlicht in die Vitrine gestellten Büchern oder gehängten Porträts - wie sie hier im Übrigen, mit wenigen Zitaten unterlegt, für das ganze jüdisch-deutsche Geistesleben herangezogen werden: eine Art name dropping - zieht der Unwissende keine Information und wohl ebenso wenig Unterhaltung. - Wie der Zickzackkurs von Libeskinds Bau die Unwägbarkeit und Vielschichtigkeit jüdischen Lebens gleichsam verinnerlicht hat, so laufen in der Ausstellung Lebenswelten, antisemitische Bedrohung, Emanzipationskurs stichwortartig nebeneinander her. Dabei findet man ein Gleichgewicht zwischen historischen Dokumenten, Zeitbildern, Judaica und den Hilfsmitteln moderner Ausstellungstechnik.
Dazwischen bietet das «Museum für die ganze Familie» überall Grotten und Spielecken «nur für Kinder», wobei Letztere die Terminals des «Learning Center» im Foyer mehr faszinieren dürften. Mit der notwendigen Zurückhaltung bei den erzählerischen Mitteln werden Nationalsozialismus, Massenflucht und Massenmord sowie die Zeit nach 1945 bis hin zur jüdischen Gegenwart in Deutschland dokumentiert.
Annäherungen
In Berlin gab es schon einmal ein Jüdisches Museum. Es eröffnete an der Oranienburger Strasse 1933 nur wenige Tage vor der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler. Den Fundus für die Ausstellungen bildeten die Sammlungen der Mitglieder der Jüdischen Gemeinde, die damals als eine der bedeutendsten in Europa rund 140 000 Mitglieder zählte. Schon nach sechs Jahren kam nach dem Novemberpogrom 1938 das Ende für das erste Jüdische Museum der Stadt. 1945 lebten noch 8000 Juden in Berlin. Bald werden in ganz Deutschland wieder 100 000 Juden leben, Berlin entwickelt sich wieder zum jüdischen Zentrum und ist nach einer Erhebung des Jüdischen Weltkongresses in New York nicht zuletzt wegen der Zuwanderer aus dem Osten die prozentual am schnellsten wachsende Jüdische Gemeinschaft ausserhalb Israels.
Das neue Jüdische Museum knüpft als «Sinnbild jüdischer Kultur» an die Tradition seines Vorgängers an. Von einem Wandel in der deutsch-jüdischen Beziehung haben manche im Vorfeld der Eröffnung, etwas hochgegriffen, geredet. Von einem neuen Fokus Deutschlands auf die jüdische Geschichte kann man sprechen, weil das Museum erstmals seit 1945 eine andere Sicht auf die jüdische Geschichte zeigt, insofern die Shoah als ein Kapitel in einer langen Zeitspanne dargestellt ist und die Rolle der Juden nicht auf die der Opfer beschränkt ist. Im Übrigen kommt dem Haus als erster überregional ausgerichteter derartiger Einrichtung in Deutschland Bedeutung nicht allein als historisches Museum zu, sondern als Ort der zukünftigen Annäherung, der Toleranz lehrt im Zusammenleben verschiedener Bevölkerungsgruppen. An diesem hohen Anspruch muss sich die Ausstellung messen lassen.
Claudia Schwartz
Begleitbuch DM 38.-.
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Zeit Kultur 15.9.2001
MUSEUM
Ein Haus des Lebens
Das Jüdische Museum in Berlin ist eröffnet. Die Wirkung des Libeskind-Baus wird von der Ausstellung noch gesteigert. Sie zeigt eine Geschichte, die sich nicht auf den Holocaust reduzieren lässt: Aufstieg und Erfolg, Furcht und Hoffnung der Juden in Deutschland.
Von Klaus Harpprecht
War es eher eine glanzvolle Feier des Abschieds, die Berlin mit der offiziellen Eröffnung des Museums im Libeskind-Haus erlebte? Die Beschwörung einer verlorenen Welt, über der in unsichtbarer Schrift der Titel jenes melancholischen Fontane-Buches geschrieben steht:
Unwiederbringlich? Oder ist es die Hoffnung auf einen Anfang? Der Museumsdirektor Michael Blumenthal gab seinen Gästen beim Galadiner am Eröffnungstag ein stolzes Wort auf den Weg: Durch die Anerkennung der Vergangenheit, durch das Jüdische Museum und andere Gedenkstätten in der Hauptstadt habe Deutschland ein Beispiel gegeben und das moralische Recht gewonnen, seine Stimme im weltweiten Kampf gegen den Rassismus, für religiöse Toleranz, für die Rechte der Minoritäten überall in der Welt vernehmbar zu machen. Das freilich ist etwas anderes als die Neigung zur nationalen Selbsterhebung, die sich aus diesem Anlass in manchen Zeitungen plus-ternd bemerkbar machte.
Der 9. September mag in der Tat einer der seltenen Augenblicke sein, in denen die zweite deutsche Republik sich selbst zu erkennen und zu feiern entschloss. Das Museum bedeutet darum am Ende mehr als der Wald der Trauerstelen des Mahnmals, weil es - nach dem Willen Michael Blumenthals, seiner Helfer, vor allem des ersten Kulturstaatsministers, der das Werk in einer Bundesstiftung auffing - eine Mitteilung des Lebens sein soll, die sich an die Lebenden wendet.
Oft genug wurde Libeskinds Architektur als das eigentliche Mal des Gedenkens gerühmt, kraftvoller, schärfer akzentuiert, bezwingender, als es jedes andere Projekt jemals sein mag - dank der aufschreckenden Form eines versteinerten Blitzschlags. Trotz des gefrorenen Schmerzes in den dunklen Korridoren und trotz der voids, in denen jede Regung erstarrt, ist Libeskinds Schöpfung ein Bauwerk von triumphierender Vitalität: Die einzige architektonische Leistung in der zu rasch und zu arrogant aus dem Boden gestampften Hauptstadt, die es verdient, groß genannt zu werden. Alle Welt fürchtete, dass diese "begehbare Skulptur", die als leeres Gemäuer an die 400 000 Besucher anzog, durch die Nutzung zugrunde gerichtet würde (denn immerhin zeigt die Ausstellung an die 4000 Exponate, darunter 1600 Originale).
Der erste Blick auf das belebte Museum widerlegt die Sorge. Drei Korridore durchschneiden das Untergeschoss: die "Achse des Exils" (mit den eingelassenen Vitrinen, in denen Zeugnisse des Geschicks ausgetriebener Familien gesammelt sind, dazu die schlichten Aufschriften mit den prominentesten Zielen der Flucht); der "Garten des Exils" mit seinen schiefen Ebenen, die unser Gleichgewicht so seltsam bedrohen; die "Straße der Vernichtung" (auch sie von Vitrinen mit Dokumenten von beispielhaften Schicksalen gesäumt); der "Holocaust-Turm", ein völlig nacktes, drei Stockwerke aufragendes graues Gelass, durch eine Metalltür verschlossen und nur von einem schwachen Oberlicht aus schlitzartigen Schächten beleuchtet - ein Ort der Verlassenheit, dem keiner unbewegt entkommt; schließlich die "Achse der Kontinuität", die auf eine lange Treppe zuführt, von der sich die Zugänge zu den Ausstellungsräumen verzweigen. Das alles ist unversehrter Libeskind, in seiner elementaren Wirkung nicht um ein Jota gemindert.
Droben fügt sich die Innenarchitektur der Exponate in der Regel behutsam in das komplexe Verwirrspiel der Linien und Flächen, das der Baumeis-ter durch die Anordnung der Fensterschlitze, die Unregelmäßigkeit der Wände, die unvermuteten Winkel, die überraschenden Fluchten geschaffen hat. Man könnte von einer überhöhten Wirklichkeit sprechen, die sich in der Illustration von 2000 Jahren jüdisch-deutscher und deutsch-jüdischer Geschichte niemals verliert. Blumenthals Entscheidung, den Neuseeländer Ken Gorbey, der weder Jude noch mit der tragischen, wirren und oft kranken Geschichte Europas allzu vertraut ist, zum Chefkonzeptor des Museums zu bestellen, war mutig, und sie war klug. Der Fremde hat gelernt, was er lernen musste. Er bewies die geforderte Sensibilität, und er ließ sich nicht durch die Fülle der Materie überwältigen. Er traf eine strenge und manchmal überraschende Auswahl, und er verstand, dass sich eine effektive Didaktik jeder Schulmeisterei enthält.
Mehr als flüchtige Kenntnisse der deutschen Geschichte, die mit jener der Juden verwoben ist, durfte er nicht voraussetzen. Blumenthal und Gorbey war auf schmerzhafte Weise deutlich, dass die Mehrzahl der künftigen Besucher kaum je einem Juden leibhaftig begegnet und von keiner Ahnung berührt ist, was es mit der Religion der Juden, ihren Traditionen, ihrer Geschichte auf sich hat - nur noch selten durch christliche Bildung, für die das Alte Testament immerhin eine belebte Welt war, wenigstens von fern her vertraut.
Kein jüdisches Disneyland
Also muss Grundwissen vermittelt werden: ohne erhobenen Zeigefinger. Die Planer erinnerten sich wohl, dass der griechische Begriff mouseion ursprünglich eine Stätte des Lernens beschrieb, nur zogen sie es vor, ihrer pädagogischen Aufgabe mit den sparsam engagierten Reizen moderner Medientechnik gerecht zu werden. Den Verdacht, dass sie ein jüdisch-deutsches Disneyland aus dem Hut zaubern wollten, wischten sie vom Tisch. Freilich mag man sich fragen, ob es sinnvoll ist, den Käfig mit der Leiche des erhängten württembergischen Hofjuden Süss Oppenheimer zur Schau gestellt wurde, en miniature an einem Vogelbauer von der Decke baumeln zu lassen.
Aber das ist die Ausnahme. Der sichere Geschmack zeigt sich selten bedroht. Auch die schnippische Formel vom "Volkshochschulniveau" brauchte Blumenthal und die Seinen nicht zu beunruhigen. Der Chef des Hauses ist ein grundgebildeter, brillanter Kopf, Autor einer großen Studie zur Geschichte des deutschen Judentums, die den Titel Die unsichtbare Mauer trägt. Er bemerkte kurz angebunden, dass dieses Museum, auch wenn es ein Lehrhaus ist, nicht der Erbauung intellektueller Snobs zu dienen habe. Der Amerikaner aus Oranienburg, dem es zufiel, den Intrigen der bornierten Berliner Bürokratie und ihrer nervösen jüdischen Partner ein Ende zu machen, zog einen Schlussstrich unter den Plan, das Museum als eine Unterabteilung im Berliner Stadtmuseum gefangen zu setzen. Das Projekt forderte vielmehr eine souveräne Dimension, die sich nicht auf die Lokalgeschichte der preußischen Metropole verengen ließ. Das eigenständige Museum wird von der Bundesstiftung mit einem Jahresetat von gut 24 Millionen Mark ausgestattet. Und Blumenthal, ein Meister der amerikanischen Kunst des Fund-Raisings, verstand es, den notorisch geizigen deutschen Unternehmern für seine Exponate kleine Vermögen zu entlocken.
An Gedenkstätten mangelt es nicht in Berlin und in Deutschland (man zählt an die 2000), Orten, an denen der nazistische Terror, der antisemitische Furor und die Vernichtung gründlich dokumentiert sind. Blumenthal aber hatte sich in den Kopf gesetzt, das Jüdische Museum in ein "Haus des Lebens" zu verwandeln. Das ist geglückt.
Es ist kein Haus des Todes, das am 9. September seine - unterirdischen - Türen öffnete, obwohl der kalte Hauch seiner Gegenwart stets aus den Kellerkorridoren heraufwehen wird. Es ist auch kein Haus der Trauer, obwohl ihr Schatten jede Szene jüdischen Lebens in den 13 historischen Segmenten mit konventionellen Exponaten, ob echt oder kopiert, multimedialen Effekten, Spielelementen, variablen Farbelementen und wechselnden Rhythmen durchdringt. Es ist kein Haus der Opfer, obwohl sie immer präsent sind. Denn die Bestätigung des chronischen Opfergeschicks wäre, wie Blumenthal feststellte, ein posthumer Sieg Hitlers. Darum wurde der jüdische Widerstand durch erstaunliche Dokumente klar akzentuiert. Auch in den Räumen, in denen der erstickende Prozess der Diffamierung, der Entrechtung, der Schikanen, der Isolierung und schließlich der Deportation geschildert wird - auf allen Etappen des qualvollen Weges zur Vertreibung und zur Vernichtung begegnen wir Zeugnissen der Resistenz wie dem Flugblatt des Kölners Richard Stern vom März 1933, in dem der todesmutige Verfasser daran erinnert, dass der "Herr Reichskanzler Hitler" wiederholt erklärt habe: "Wer im III. Reich einen Frontsoldaten beleidigt, wird mit Zuchthaus bestraft!" Der Aufruf zum Boykott jüdischer Geschäfte, schrieb Stern, sei "eine Schändung des Andenkens von 12 000 gefallenen Deutschen Frontsoldaten jüdischen Glaubens". (Er hätte auch ein Buch mit Kriegsbriefen jüdischer Frontsoldaten aus dem Jahre 1932 zitieren können, das ein Grußwort des Reichspräsidenten und Generalfeldmarschalls von Hindenburg enthielt: "Meine lieben jüdischen Frontkameraden ...") Die Ausstellung zeigt eine blau-weiße, mit dem Davidstern geschmückte Flagge, die Martin Friedländer, gegen die Nürnberger Rassengesetze von 1935 protestierend, aus dem Fenster seiner Wohnung in der Berliner Linienstraße wehen ließ. Und Robert Weltsch appellierte an die Leser der Jüdischen Rundschau: "Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck!"
Nein, das ist kein Haus des Holocaust, das den Genozid mit sakralem Pathos als das Dritte (oder Zweite) Testament jüdischer Religiosität beschwört, wie manche der amerikanischen Museen. Es verzichtet auf die Bilder des Grauens. Das Museum begnügt sich mit vier Symbolen: einem Brief, der aus dem Lager Auschwitz III nach draußen gelangte; dem Koffer, der eine Frau nach Theresienstadt begleitete; einer gestreiften KZ-Jacke und dem Faksimile der jiddisch geschriebenen Aufzeichnungen, die Salmen Gradowski, ein Häftling im Sonderkommando beim Krematorium II, in einer Aluminiumflasche vergraben hatte, ehe er erschossen wurde (das Manuskript wurde erst in den sechziger Jahren gefunden). Dazu die letzte Rohrpost-Nachricht von Martha Liebermann, der Witwe des Malers, an den Bankier Ahlenfeld, das Couvert mit Hindenburg- und Führermarken frankiert, in dem sie von ihrer Angst vor dem Abtransport spricht. Der Empfänger vermerkte: "Abgeholt 5. III. 43 morgens! Gift genommen!" Eine makabre Pointe: die Totenmaske ihres Mannes, der 1935 starb, war von Hitlers Gardebildhauer Arno Breker gefertigt worden.
Das ist kein Haus der Abstraktionen, sondern ein Haus der Erzählung, die mit dem ältesten Zeugnis jüdischer Präsenz in Germanien beginnt, einem Dekret des Kaisers Konstantin aus dem Jahre 321, das den Status der Kölner Juden präzisiert (das Original befindet sich im Vatikan). Sie setzt sich fort mit Zeugnissen von der Blüte des frühmittelalterlichen Judentums in den Städten Speyer, Mainz und Worms (das an die 25 Prozent Bürger israelitischen Glaubens zählte): Gemeinden, die im Ansturm der Kreuzfahrerhorden nahezu ausgelöscht wurden, nach dem Wiederaufbau von neuem durch die Pogrome der Pestjahre heimgesucht und noch lange bedroht von der Hysterie des (nicht nur) religiös begründeten Antijudaismus, der mit Luthers Hetzschrift Wider die Jüden - auch sie ein Exponat - eine fatale Allianz mit dem Protestantismus einging.
Das Museum ist auch kein Haus der Verklärung. Vielmehr zeigt es ohne Verschwärmheit, wie mühselig sich der Prozess der Emanzipierung unter dem Toleranzgebot der Aufklärung und den Weisungen der Französischen Revolution vollzog: nicht nur gegen den Widerwillen der regierenden Klasse (und der Staatsbürokratie), sondern auch gegen das Misstrauen der jüdischen Orthodoxie, die ihre Kontrolle des - auf religiöse Unterweisung verengten - Bildungswesens bedroht sah. Es verschweigt nicht, dass Friedrich der Große, so oft als der Idealherrscher eines aufgeklärt-toleranten Staates gefeiert, dem Lessing-Freund Moses Mendelssohn die Aufnahme in seine Akademie der Wissenschaften und Künste verweigerte, obwohl der Gelehrte mit seinem Essay Über die Evidenz in metaphysischen Wissenschaften 1763 den ersten Preis des Institutes gewonnen hatte (der zweite fiel Immanuel Kant zu). Übrigens verdiente der Inspirator von Lessings Nathan sein Auskommen als Buchhalter einer Seidenspinnerei - wovon eine dick umrandete Staubschutzbrille zeugt: eine Arbeits-, keine Lesebrille.
Die "unsichtbare Mauer", von der Blumenthal in seiner Studie berichtet, wurde von den Gemeinden der Reformsynagogen nicht durchbrochen, obschon sie so tief von der Nachbarschaft zum "Kulturprotestantismus" der Schule Schleiermachers geprägt waren. Das amerikanische Judentum ist ohne die deutsch-liberale Synagoge nicht denkbar.
"Deutschland", schrieb Blumenthal, "war für die Juden einst ein Ort der Hoffnung und der unbegrenzten Möglichkeiten." Die Hoffnung trog. Die geistreichen Damen der Berliner Salons, Mendelssohns genialer Nachfahr Felix, Heine, Börne, die Journalisten, die Verleger, die Elite der jüdischen Wissenschaftler und Forscher, Erfinder und Unternehmer: Sie stießen sich fast alle an jener Barriere wund.
Aber ist sie nun endlich gefallen, die unsichtbare Mauer der Ressentiments? Gibt es wenigstens Ansätze zu einer deutsch-jüdischen Normalität? Die Reaktion auf die Computerfragen, die das Museum seinen Besuchern stellt, wird einige Aufschlüsse zulassen. Zum Beispiel: Ist Deutschland heute ein Einwanderungsland? Ist es im heutigen Deutschland angebracht, Witze über Juden zu erzählen? Wäre es möglich, dass ein Jude in naher Zukunft deutscher Bundespräsident würde?
Der Traum von der Assimilation
Wichtiger: Das Museum entlässt keinen Gast ohne die angstvolle Grundfrage, ob es die so innig beschworene deutsch-jüdische Symbiose in Wirklichkeit jemals gab - oder ob sie von Beginn an zum Scheitern verurteilt war, wie es die Hüter der Orthodoxie von jeher und erst recht im Zeichen des Holocaust anklagend verkündet hatten. Sie verstanden die Assimilation als eine Versündigung (wie sie ihren deutschen Schicksalsgenossen in den Lagern voller Bitterkeit vorwarfen). Max Liebermann notierte 1933, er sei - "so schwer es mir auch wurde" - aus dem "Traume der Assimilation erwacht", und Leo Baeck, Leiter der Reichsvertretung deutscher Juden in der nazistischen Diktatur, stellte nach seiner Befreiung aus Theresienstadt fest, die "Epoche der Juden in Deutschland" sei ein für alle Mal vorbei.
Doch an die 100 000 Juden leben wieder im Land der Vernichtungsmaschine, die meisten russischer oder ukrainischer Herkunft. Vielleicht werden sie sich eines Tages als deutsche Juden betrachten: Im Museum könnten sie lernen, was das heißt.
Michael Blumenthal ist - anders als Daniel Goldhagen - nicht davon überzeugt, dass die Katastrophe des deutsch-jüdischen Experimentes "vorherbestimmt" gewesen sei. Das Scheitern erklärt sich nach seinem Urteil aus der chronischen Unfähigkeit, in Deutschland eine demokratische Gesellschaft und einen liberalen Staat zu verwurzeln, die der jüdischen Integration eine bergende Hülle geboten hätten.
Mit der Inauguration des Jüdischen Museums könnte Deutschland (das bessere) sich ein Stück näher gerückt sein. Vielleicht begreifen unsere Landsleute Libeskinds geniales Haus als eine Station auf dem Heimweg zu sich selbst - den Ort, an dem sie den Juden - den überlebenden, den ermordeten, den ausgetriebenen, den neu gekommenen, ihren Kindern, ihren Enkeln - zu sagen versuchen: Wir wollen, dass ihr wieder zu uns gehört. - Wieder? Oder eher zum ersten Mal? Das mag eine vergebliche Bitte sein. Vielleicht bestätigt sich nur, was der Autor dieses Berichtes vor Jahr und Tag notierte: dass es wieder Juden in Deutschland geben mag, womöglich deutsche Juden (die sich auch so nennen) - aber niemals mehr ein deutsches Judentum.
Doch vielleicht haben wir nun mehr Glück mit uns selbst, mit der Demokratie, der Liberalität, der Toleranz, der Pflicht zur Integration. Das Jüdische Haus zwingt uns keine Thesen auf. Aber die Grundfragen, die es stellt, gehen nicht nur uns an, sondern - im Zeichen der bitteren Krise des Zionismus - auch die Vereinigten Staaten, die nach der deutschen Katas-trophe das Erbe der jüdischen Hoffnungen übernahmen - und mit solch bewundernswerter Energie erfüllten. Michael Blumenthal kam als Bote einer besseren Welt nach Berlin. Es braucht noch eine Weile, bis er als Bote eines besseren Deutschland in die amerikanische Heimat zurückkehren kann.
(c) DIE ZEIT 38/2001
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Zeit Kultur 15.9.2001
Magier der Vernunft
PORTRÄT
Michael Blumenthal ist ein Virtuose im Umgang mit Menschen. Im Berliner Dickicht hat er das Jüdische Museum aufgebaut - Von Klaus Harpprecht
Ein enger Freund, der ihn seit Jahrzehnten begleitet, bemerkte von Michael Blumenthal, er sei niemals einem Menschen begegnet, der in gleicher Weise dazu begabt sei, jede Etappe seines Daseins von Grund auf neu zu leben, mehr noch: sich in einem anderen, einem zweiten, dritten, vierten Leben ein ums andere Mal zu erfinden. Er sprach nicht von der Anpassung, die das Schicksal von jedem armen Teufel verlangt, der - aus seiner Heimat vertrieben, wie es dem Dreizehnjährigen widerfuhr - die Heimsuchungen der Fremde zu bestehen hat: auch einer so fremden Fremde, wie es das jüdische Quartier von Shanghai war, in dem die japanische Besatzungsmacht die bettelarmen Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich zusammenpferchte.
Bürger ohne Allüren
Jener Freund - übrigens ein Amerikaner, der selbst auf ein bewegtes Dasein zurückschaut - meinte in Wahrheit die Intensität, mit der sich Blumenthal der unterschiedlichsten und so oft dramatischen Herausforderungen seiner Biografie bemächtigte, die man ein großes, ja fantastisches Abenteuer nennen könnte, ans Märchenhafte grenzend - in mehr als einer Hinsicht die Erfüllung des klassischen amerikanischen Traumes von dem jungen Menschen, der mit einer Hand voll Dollar in den Vereinigten Staaten anlangt, sich für keinen Dreckjob zu schade ist, um sich das Studium zu verdienen. Eine prallvolle Existenz, die genügte, zehn andere Leben auszufüllen, von denen keines langweilig wäre oder auch nur "normal", um eine missverständliche Formel zu riskieren, denn eben das war eine der verborgenen Energiequellen des Großmanagers, des Politikers, des Diplomaten, des gebildeten Bürgers und Autors W. (für Werner) Michael Blumenthal: dass er jeder Aufgabe mit einer Art gehobener Normalität begegnet, ohne Allüren, doch selbstbewusst, nicht frei von Eitelkeit (immerhin ist er ein Intellektueller), aber ohne Arroganz und Manierismen, obschon sein Gesicht durch das Dean-Acheson-Bärtchen eine neuenglische Prägung gewann. Eher hält er es mit dem Understatement, das eine der kostbarsten Errungenschaften des angelsächsischen Kulturkreises ist. Trotz aller Wandlungen, womöglich dank seiner Bereitschaft zur permanenten Selbsterneuerung: Er blieb sich, soweit es ein ferner Beobachter beurteilen kann, auf eindrucksvolle Weise treu.
Die jüngste Station (kaum die letzte) seines Weges durch die Welt passiert er am 9. September in Berlin mit der Eröffnung des Jüdischen Museums: Es ist sein Tag - mehr als der jedes anderen. Ohne die Dynamik des 75-Jährigen, ohne sein organisatorisches Geschick, ohne seinen Magnetismus, der die schwierigsten und disparatesten Zeitgenossen durch die Kunst der Überredung und eine unbesiegbare Vernunft zu engagieren und zusammenzuzwingen vermag, wäre das halbe Wunder kaum geglückt, den Libeskind-Bau, bisher nur eine bestaunte architektonische Provokation, in ein erzählendes Museum zu verwandeln - ganz gewiss nicht in der Frist von knapp vier Jahren.
Wer immer im Herbst 1997 auf den Einfall verfiel, bei dem einstigen Finanzminister der Vereinigten Staaten und Chairman des Elektronikkonzerns Unisys Corporation mit der Frage anzuklopfen, ob er vielleicht bereit sein würde, als Direktor des desolaten Museums-Projektes nach Berlin zu kommen: Er (oder sie?) hat sich verdient gemacht. Bei seiner Berufung freilich ließ sich leicht voraussagen, dass Blumenthal den Dschungel der Berliner Wirrnisse mit kühler Entschlossenheit ausroden, dass er die Barrieren kleinkarierter Widerstände mit taktischer Behutsamkeit forträumen und die Debatte um die deutsche Erinnerungspflicht auf ein angemessenes Niveau befördern würde.
Mit ihm konnten die Seilschaftsdirigenten, die Beziehungswusler und eifersüchtigen Oberbürokraten ganz gewiss nicht verfahren, wie sie es in den Jahrzehnten vermuffter Front- und Hauptstadt-Routine gewohnt waren. Blumenthal wusste, dank seiner Erfahrungen als Industrieboss und Regierungsmitglied, genauer als sie alle, was Macht ist - im Umgang mit ihren Instrumenten souverän genug, sie nur sparsam und sensibel einzusetzen. So viel war deutlich: Niemand konnte es darauf ankommen lassen, dass er dem Senat den Krempel vor die Füße knallen und sich in die nächste Maschine Richtung New York setzen würde - die Blamage vor den Augen der Welt wäre unsagbar und der Schaden für die Reputation der alt-neuen Metropole des vereinten Deutschland nahezu irreparabel gewesen.
Durch die Virtuosität seines Umgangs mit Menschen, mit der er die Gemeinsamkeit unterschiedlichster Interessen zu mobilisieren vermag - ein brillanter Personalmanager samt der notwendigen Härte -, ist Blumenthal ohne sein Dazutun ein powerhouse in der Hauptstadt geworden: eine Autorität ohne Amt und Anspruch, die von allen Partnern und Parteien respektiert wird. In seinem Salon am Gendarmenmarkt trifft sich, im Schutz unaufdringlicher Diskretion, wer Wichtiges zu bereden hat. Er ist eine Institution, die man eines (hoffentlich fernen) Tages bitter entbehren wird.
Als Blumenthal sich auf dieses Wagnis einließ, waren vermutlich die meisten seiner Gefährten überrascht. Nicht alle. Seine Vertrauten hatten voller Sympathie registriert, dass Blumenthal nach dem Fall der Mauer nicht lange gezögert hatte, sich in Oranienburg umzusehen: der Stadt des "Muster-KZ", die für ihn vor allem die Stätte seiner Kindheit war. Kreuz und quer reiste er im Mietwagen durch die befreite DDR, auch durch den Bonner Staat - auf den Spuren seiner Familie, deren Geschick so eng mit der Geschichte des deutschen Judentums verflochten ist, ausgezeichnet durch überragende Persönlichkeiten wie Rahel Varnhagen, diesen flirrenden Geist, der mit seiner erotisch-spirituellen Magie die bedeutendsten Köpfe der Epoche an der Schwelle von Aufklärung und Romantik in ihrem Salon zu versammeln verstand.
Ein deutscher Glücksfall
Was für eine Genugtuung, dass Blumenthal eine Wohnung in dem restaurierten Haus fand, in dem sie einst mit den Humboldts, den Schlegels, mit Schleiermacher und Friedrich von Gentz parlierte - Rahel Varnhagen, eine Schlüsselfigur der Emanzipation, der auch Goethe seine Aufwartung machte. Freilich übersah der Nachfahr keineswegs, dass Rahel - trotz der Aufmerksamkeit und der Zuneigung, die ihr zuteil wurde, trotz Taufe und adliger Heirat - ihr Leben lang unter der "größten Schmach" gelitten hat, "als Schlemiel und Jüdin zur Welt gekommen zu sein", nicht anders als der Komponist Giacomo Meyerbeer (auch der ein Ahnherr).
Das "deutschsprachige Judentum und seine Geschichte" sei ein "einzigartiges Phänomen, das auch im Bereich der sonstigen jüdischen Assimilationsgeschichte nicht seinesgleich hat", schrieb Hannah Arendt in ihrer Rahel-Biografie, ein "Phänomen, das sich ... in einem geradezu bestürzenden Reichtum an Begabungen und wissenschaftlicher und geistiger Produktivität" geäußert habe. Blumenthal nutzte seinen "Ruhestand", um diesen Reichtum, aber auch den deutsch-jüdischen Alltag in einem bedeutenden Buch zu erforschen, das den melancholischen Titel Die unsichtbare Mauer trägt. Deutschland, stellte er fest, habe sich "jüdischen Talenten gegenüber besonders aufgeschlossen gezeigt, sich aber auch hartnäckig geweigert, die Minderheit vollständig zu akzeptieren und zu integrieren", die "Liebe der assimilierten Juden zum Vaterland" nur selten erwidernd: Ursprung der Tragödie, von der die Einzigartigkeit des Libeskind-Baus zeugt.
Das Museum aber soll, nach Blumenthals Willen, kein Haus der Opfer sein, sondern eine Heimstatt deutsch-jüdischen Lebens, damit auch der Versuch einer Einkehr in die Normalität eines demokratisierten und liberalen Deutschland, das Blumenthal erhoffen mochte, als er in Princeton seine Promotionsarbeit über die Mitbestimmung in der jungen Bundesrepublik schrieb - eine Erfahrung, die auch später den Management-Stil des Unternehmers Blumenthal geprägt haben mag, der sich als Präsident der Bendix Corporation (vor der Berufung ins Kabinett Jimmy Carters) für einen Kodex der Wirtschaftsethik und für die faire Chance der Minoritäten ins Zeug legte, mit einem Wort: für jenes Element sozialer Gewissenhaftigkeit, das dem wuchernden Kapitalismus unterdessen verloren zu gehen droht.
Die Aufgabe in Berlin umschrieb der Korrespondent der New York Times mit der amerikanischen Redewendung "that his life has come full circle". Seinen Sohn, sagt er, würde er nicht davon abhalten, in Berlin zu studieren. Er ist ein amerikanischer, ein jüdischer, in einem Winkel seines Wesens auch ein deutscher Glücksfall.
(c) DIE ZEIT 37/2001
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Zeit Kultur 15.9.2001
Architektur der Suche
INTERVIEW
Vor der lang erwarteten Eröffnung des Jüdischen Museums in Berlin: Daniel Libeskind über die Kunst des Erinnerns, die Vermarktung des Holocaust und die rätselhafte Macht seiner Baukörper - Von Hanno Rauterberg
die zeit: Über 350 000 Menschen haben das Jüdische Museum bisher besucht, viele waren begeistert, obwohl es dort nichts zu sehen gab als Architektur. Drei Jahre lang stand das Gebäude im Mittelpunkt, jetzt zieht die Dauerausstellung ein. Bedauern sie das?
Daniel Libeskind: Nein, überhaupt nicht. Warum sollte ich?
zeit: Vielleicht weil nun die Architektur nicht mehr die Hauptrolle spielt.
Libeskind: Das leere Gebäude war eine Ausstellung für sich, da haben Sie Recht.
Und ich war natürlich glücklich, dass viele Leute sich auf intellektuelle und emotionale Weise mit dem Gebäude identifiziert haben. Doch diese Ausstellung ist nun beendet, und ich freue mich darüber. Denn bislang dominierte die Leere, und damit war das Gebäude in seiner Wirkung viel zu sehr auf den Verlust, auf die Auslöschung der jüdischen Kultur festgelegt. Es ist ja kein Holocaust-Museum, und das wird sehr deutlich werden, wenn nun endlich auch die Exponate gezeigt werden.
zeit: Die Ausstellungsmacher allerdings klagen über den Zickzack-Bau. Warum haben Sie nicht mehr Rücksicht auf deren Bedürfnisse genommen?
Libeskind: Natürlich ist dieses Gebäude keine konventionelle Kiste, aber es stimmt einfach nicht, dass es die Kuratoren hier besonders schwer haben.
zeit: Sie werden doch nicht bestreiten, dass Ihr Gebäude eine ausgeprägte eigene Didaktik verfolgt?
Libeskind: Es ist nicht didaktisch, es ist sehr offen. Jeder ist eingeladen, sich sein eigenes Bild von dem Gebäude zu machen, von dem, was es darstellt. Es gibt viele Interpretationen, und nach der Ausstellungseröffnung wird es noch mehr geben. Die Architektur gleicht einem Text, der immer wieder aufs Neue ausgelegt wird, mal originell, mal schief, mal klug. In jedem Fall spüren die Leute, dass dieses Gebäude eine Geschichte erzählt, doch keine eindimensionale und keine abgeschlossene.
zeit: Besteht nicht die Gefahr, dass durch Ihre sprechende, sehr emotionale Architektur jeder Besuch im Jüdischen Museum zu einer Art Erlebnisreise wird, zu einem Ausflug in den Themenpark Holocaust? Warum dramatisieren Sie etwas, das ohnehin schon dramatisch genug ist?
Libeskind: Das sind doch zynische Vorwürfe! Wer meint, sich über die Vermarktung des Holocaust beschweren zu müssen, der übersieht, dass sehr viele Menschen sich für die Schoah interessieren. Sie wollen wissen, was in jenen Jahren geschah. Und sie begreifen die Vergangenheit nicht als etwas, das vorüber ist, sondern fragen nach den Auswirkungen auf unser heutiges Leben. Natürlich würden manche Kritiker das Gebäude gern als Kitsch abtun, als etwas Gestelltes und Unechtes. Doch ich kenne keinen Besucher, der meine Architektur als unglaubwürdig erlebt hätte. Im Gegenteil, die meisten sind von der Ernsthaftigkeit, auch von der Vielschichtigkeit des Gebäudes überrascht. Deshalb ist es so beliebt.
zeit: Wollen Sie sagen, Ihr Gebäude sei nüchtern und zurückhaltend?
Liebeskind: Nein, das nicht. Aber ich wollte nie etwas simulieren, nichts liegt mir ferner als ein jüdischer Themenpark. Gleichwohl war es mir wichtig, auch den Emotionen einen Raum geben. Manche Leute stehen in dem Holocaust-Turm des Museums und empfinden Trauer und Bestürzung, andere sehen darin einen spirituellen Raum und sprechen von Hoffnung. Jeder kann hier seinen Gefühlen nachspüren, kann das im Museum Gesehene, Gehörte, Gelesene reflektieren.
zeit: Aber ist eine lustvolle, auch sinnenfrohe Architektur den Zwecken angemessen?
Libeskind: Die Leute sollen das Museum auch genießen und sich darin wohlfühlen, sonst wäre es ja nur ein Mahnmal, eines, das einmal im Jahr von staatlichen Gedenkfeiern heimgesucht wird.
zeit: Das Museum als Ort, zu dem man gern hingeht?
Libeskind: Ja, durchaus. Für ein Mahnmal würde ich das zwar nicht so formulieren, für ein Museum aber schon. Es ging mir nicht darum, klaustrophobische oder fatalistische Räume zu entwerfen. Es gibt auch Licht, auch Ausblicke auf das Humane und die Zukunft. Das Gebäude ist also nicht auf den Holocaust fixiert, sondern es gibt ein breites Spektrum an Stimmungen. Auch die unglaublichen Glücksmomente der jüdisch-deutschen Kultur und Geschichte in Berlin finden ihren Ausdruck.
zeit: Das klingt, als wollten Sie eine harmonische Ausgewogenheit.
Libeskind: Natürlich habe ich kein Museum entworfen, das die Seelen befriedet, oder das vorgibt, alle Wunden würden von der Zeit geheilt. Der Holocaust war keine kurzfristige Bild- und Tonstörung, sondern ein Einschnitt, der alles veränderte, alles in Deutschland, alles für die Juden. Auch wenn die jüdische Geschichte natürlich weitergeht und man nach einer helleren Zukunft sucht, wird bei aller Helligkeit ein Schatten bleiben. Ich glaube, dass ist auch in meinem Museum für jeden Besucher deutlich zu spüren.
zeit: Aber was genau spürt man dort? Und wodurch eigentlich spürt man es?
Libeskind: Mit der Macht der Architektur ist es wie mit der Macht des Wortes - wie sie funktioniert, ist nur schwer zu sagen. Ich weiß nur, dass sie sehr direkt wirkt, man muss nicht lesen können, muss nicht gebildet sein. Das Gebäude wird durch seine Räume und Materialien die Besucher beeinflussen, es wird auf bestimmte Dinge hindeuten, es wird die Art und Weise prägen, in der sie sich die Ausstellung ansehen. Es ist keine Black Box, sondern behauptet seine eigene Wirklichkeit. Und verleiht damit auch der Vergangenheit eine leibhaftige Gegenwart: Die Geschichte ist nichts Virtuelles, nur Ausgedachtes - das ist die Botschaft meiner Architektur.
zeit: Viele Menschen umschreiben diese Wirkmächtigkeit Ihres Gebäudes als magisch oder mystisch. Mystifizieren sie den Holocaust?
Libeskind: Bestimmt nicht. Ich versuche lediglich eine Dimension unserer Geschichte in Architektur zu übersetzen, die man wohl als paradox und unbegreiflich bezeichnen muss: dass man sich nämlich nicht über die Leistungen eines Moses Mendelssohn freuen kann, ohne zugleich daran zu denken, was mit seiner Familie geschah. Es ist wie in der Musik von Schönberg, wo man in einem melodischen Ganzen auf eine Tonalität stößt, die unsere Erfahrungen aufspaltet. Plötzlich fühlt man sich entrückt, versetzt, irritiert. In diesem Sinne ist auch meine Architektur kein intellektueller Überbau, sondern provoziert Gefühle der Verstörung und verleiht dem Museum eine Tiefe. Es geht nicht nur um Spaß und um das Offensichtliche - das zwar auch, aber ebenso lässt sich hier das Unsichtbare empfinden.
zeit: Das Museum also als eine Art Kirche?
Libeskind: Es ist ein säkulares Gebäude. Denn auch die Geschichte entsteht ja nicht aus irgendwelchen mythischen Urgründen. Gleichwohl sind natürlich Glaube und Religion auch Teil der Geschichte und als solche auch Teil meines architektonischen Entwurfs.
zeit: Warum aber muss die Architektur überhaupt eine so wichtige Rolle spielen?
Warum halten Sie sich nicht stärker zurück wie Ihr Kollege Peter Zumthor, der für die Ausstellung Topographie des Terrors eine ruhige, reduzierte Hülle baut?
Libeskind: Auch eine rechtwinklige Kiste ist doch kein neutrales Gebäude! Mir gefällt diese Art von Architektur nicht, sie hat für mich etwas Niederdrückendes, weil sie so leblos ist und sich aller Ideen beraubt. Wie kann ein Bau, der so reduziert ist wie der von Peter Zumthor, etwas über die Komplexität unserer Geschichte und Gegenwart erzählen? Der Reichtum der Realität, auch ihre Widersprüche, werden da doch eingeebnet. Ich kann mit solchen Rationalisierungsversuchen nichts anfangen. Für mich muss Architektur immer auch Ausdruck einer Suche sein, einer Forschung und Nachfrage. Schließlich werden wir nie endgültig wissen, was in der Vergangenheit wirklich war. Wir glauben nur, dass wir das wissen.
zeit: Ihr Museum ist so expressiv und vieldeutig, dass sogar vorgeschlagen wurde, es zum Holocaust-Mahnmal umzuwidmen. Hätten Sie sich das vorstellen können?
Libeskind: Das Museum besitzt ja durchaus Elemente eines Mahnmals, den Holocaust-Turm zum Beispiel oder die Leerräume, die Voids. Und wohl kein jüdisches Museum an diesem Ort käme ohne solche Gedenkräume aus, schließlich geht es hier ja nicht nur darum, einfach ein paar schöne, kostbare Exponate auszustellen.
zeit: Ist das Museum folglich ein Ort der Trauer?
Libeskind: Darüber habe ich noch nie nachgedacht, manche Menschen mögen das so sehen. Für mich ist das Museum vor allem ein Emblem der Hoffnung, es ist der Beweis dafür, dass auch künftige Generationen unsere Geschichte bewahren und ernst nehmen werden. Das Museum handelt also nicht nur von unserer Vergangenheit, sonst wäre es ja tatsächlich nur ein erstarrtes Mahnmal, ein Ort des Rückblicks. Nein, dieses Museum gleicht eher einem lebenden Organismus, nichts wird abgeschlossen, nichts ist beendet. Hier geht es auch um das Kommende.
zeit: Ist Aussöhnung Ihr Ziel?
Libeskind: Das ist ein Wort, mit dem ich nichts anfangen kann. Mein Ziel war es, mit meiner Architektur der Ausstellung eine Art Störfaktor einzubauen. Die Leute sollen sich im Jüdischen Museum gut unterhalten, sie sollen sich wohlfühlen und sich beeindrucken lassen. Doch wollte ich verhindern, dass sie sich in Nostalgie flüchten können, in eine gute alte Zeit, die mit der Gegenwart nichts mehr zu tun hat.
zeit: Aber können Sie mit Ihrer Architektur die Erinnerung beflügeln? Vor allem die mächtige Symbolsprache Ihres Baus erschwert doch eher den persönlichen Zugang.
Libeskind: Sie meinen den geborstenen Davidstern? Den zuckenden Blitz? Das sind doch alles Symbole, die gar nicht existieren. Die haben sich manche Leute zurechtgelegt, weil sie die Offenheit und Zeichenlosigkeit meiner Architektur nicht ertragen. Doch das Gebäude wehrt sich gegen solche vorschnellen Zuschreibungen und monodimensionalen Interpretationen. Es geht diesem Museum ja auch nicht um Entnazifizierung, um grob gerasterte Lehren. Es geht nicht um eine Pflichtveranstaltung, um Wissen, das man den Leuten eintrichtern müsste. Vielmehr soll hier die Möglichkeit eröffnet werden, tiefer in die Geschichte einzutauchen. Es gibt keine vorformulierten Metaphern, dafür aber viele Angebote zur Aneignung und Anteilnahme. Natürlich kann man Erinnerung nicht ein- und ausknipsen wie einen Fernseher, aber vielleicht gelingt es der Architektur dennoch, wie ein Katalysator zu wirken, der das Erinnern verstärkt und es in viele Richtungen gleichzeitig lenkt. Das zumindest wäre mein Wunsch: dass die Leute dieses Museum mit einer Erfahrung verlassen, die ihnen etwas bedeutet. Dass sie nicht unbeteiligt bleiben.
zeit: Und die üppigen Glitzer-Galas zur Eröffnung stören Sie nicht?
Libeskind: Ich glaube, dass Museen heutzutage sehr findig sein müssen, um die Öffentlichkeit anzulocken und um das nötige Geld zu beschaffen. Das ist nun einmal unsere Gegenwart, und vor dieser soll sich das Gebäude ja auch nicht verschließen.
Wenn dazu Gala-Diners gehören, von mir aus. Die Architektur ist robust genug, um sich auch gegen solche Formen der Vereinnahmung zu behaupten.
(c) DIE ZEIT 36/2001
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Westdeutsche Zeitung Kultur 15.9.2001
Das Jüdische Museum Berlin (Teil1): Schrei aus
Stein und Sound der Technik
Von Andreas Wilink
Berlin. Das Jüdische Museum Berlin ist eröffnet: Daniel Libeskinds skulpturaler Bau und Leerraum ist nun gefüllt mit deutsch-jüdischer Geschichte.
Es ist ein international (aus-)geführtes Museum deutscher Geschichte unter besonderem Gesichtspunkt: dem der deutsch-jüdischen Geschichte. Es sei "kein Museum für Juden", so sein Direktor W. Michael Blumenthal während der spektakulären Eröffnung des Hauses, sondern für Deutsche.
Zumindest am Tag, der Presse und Spendern vorbehalten blieb, möchte man diese Aussage relativieren. Denn rührende Momente wie diesen gab es viele, da ein alter Herr aus Israel seine zur Verfügung gestellte Fotografie wiedersah, die ihn als Knirps neben seinem Vater in Frack und Slapstick-Pose zeigt.
Momente, in denen sich die Frage nach wissenschaftlicher Methode und historischer Relevanz oder Emotionalisierung oder gar Entertainment einfach auflöst.
Auch dies eine "delikate Balance" (Blumenthal), die die gesamte Ausstellung mit ihren 3900 Exponaten (bei 1600 Originalen) halten will und muss; die Balance von Normalität und Gesondertheit, von Leistungen und Leiden, Erfolg und Verfolgung.
Die Juden als Subjekte und keineswegs nur als Objekte von Geschichte; als Gestalter, nicht nur Opfer, Bürger, nicht bloß Außenseiter und ihrer bürgerlichen Rechte Beraubte. Das scheint der Überfülle der Sammlung und ihrer interaktiven Präsentation gelungen.
Probleme anderer Art gibt`s genug. Vor allem, wie würde sich das gefüllte zum leeren Museum verhalten, der begehbaren Skulptur Daniel Libeskinds, die in zwei Jahren bereits über 300 000 Besuche anzog? Die zur Deutung drängende Dominanz des Raums ist ja mehr und will mehr sein als Karosserie. Das Monument, das in die Wahrnehmung einschlägt wie ein Blitz, ist ein intellektueller, ja philosophischer Entwurf, dessen expressionistischer Zickzackkurs das System des rechten Winkels sprengt und Sicherheit spendende Linearität entmachtet.
Gang durch die Unterwelt und Aufstieg zum Licht
Äußerlich ein Geheimnisträger mit seinen Fensterscharten und Sehschlitzen, innen ein irrational logisches Labyrinth. Dort, wo es vom Entree aus abwärts geht, bleibt Libeskinds grandiose Konzeption gewahrt.
Der Gang durch die Unterwelt führt über die "Achse der Kontinuität", die auf die schmale Treppe mündet, über die man zu den Ausstellungsetagen gelangt und dabei zurück blickend schwindelnd das Bodenlose erschaut: die Katastrophe. Die Hauptstraße wird gekreuzt von den "Achsen des Exils und des Holocausts".
Erstere benennt die Fluchtpunkte auf der ganzen Welt und legt in Vitrinen Koffer, Pässe, Passagen, Identitätskarten etc. aus zur Legitimation für die Fremde. Die andere - endend im Nichts des meditativen kalten und hohen Betonkamins - markiert die Orte des Schreckens von Auschwitz bis Treblinka und hinterläßt letzte Dinge: Briefe, Listen, Urkunden, Zeichnungen, persönliche Spuren.
Das bedeutsame Prinzip heißt hier: Schicksal ist immer konkret, namentlich benennbar. Ein Teddybär gehörte Peter Rosenbaum, ein Handtuch Margarete Kuttner. Die Toten der Anonymität zu entreißen, darin schon liegt lohnende Aufgabe; Triumph über die, deren Maschinerie die Existenzen tilgen wollten. Das individuelle Zeugnis kann aber in summa symbolisch werden.
Noch ein Freiraum liegt vor der Austellungspassage, die sich selbst wiederum stets aufs Neue an den schweigenden Schächten, den sogenannten "Voids", bricht. Eine fast unbestückt gelassene Etage leitet zur "Leerstelle des Gedenkens" mit Menashe Kadishmans Installation "Gefallenes Laub". Sie sät in 10 000 rostigen Eisenscheiben mit gestanzten Gesichtern und klagenden Mündern die Idee des Abwesenden und Verlorenen aus. Der Verlust verlangt nach solch starken Setzungen, die in ihrer Reduktion sich tiefer einprägen als all die Fülle, Buntheit, Lebendigkeit im Spieltrieb der ständigen Schau.
Sie ist wie das komplette Gerüst drum herum mit Museumsshop, Learning Center, Broschüren, Programmen, corporate identity und Dienstleistungen des äußerst zuvorkommenden Personals sehr perfekt, professionell und im guten Sinn amerikanisch, publikumsorientiert, populär und pädagogisch.
Info-Schubkästen, audiovisuelle Technik, Touchscreens, PC, Mitmachspiele, virtuelle Szenerien, Vergrößerungen und Reproduktionen, Objekte und inszenierte Lebensräume sind animierend, anschaulich und begreifbar: Lustbarkeit als Programm des "erzählenden Museums" von Ken Gorbey. Obschon die theatralische, manchmal zum Verschwinden gebrachte und zugestellte Architektur den Gedanken an die Shoah präsent hält, auch wenn der Lauf der Zeiten nicht ständig dieses mortale Ziel erfasst.
Die Zentralperspektive auf den Platz der Juden in der Gesellschaft von der römischen Antike bis zur Gegenwart wird aufgesplittert in eine Vielzahl der Facetten, wobei sie mal den Blick der Minorität spiegelt und zum anderen die Optik der Majorität einnimmt auf die entweder geduldete, geschützte, gar geförderte, unterdrückte und verfolgte Gruppe, die ja durchaus keinen einheitlichen Körper bildet.
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Westdeutsche Zeitung Kultur 15.9.2001 6:9
Jüdisches Museum Berlin Teil 2:
Tohuwabohu oder - Alles ist nicht genug
Von Andreas Wilink
Berlin. Vom Mittelalter bis zur Walser-Bubis-Debatte: Das Banale, das Bunte und das Bedeutende. Ein Blick in die Ausstellung des Museums.
"Freudvoll und leidvoll, gedankenvoll sein", dichtete Goethe auf einem der "Herzblätter" als Gast des Salons der Henriette Herz um 1800. Ein Motto für die chronologische Wanderung, einsetzend beim Dekret von Kaiser Konstantin 321, das die Aufnahme von Juden in den Stadtrat Kölns bestätigt. Allerdings ist die Urkunde nur Leihgabe des Vatikans.
Das Jüdische Museum freilich zeigt sich im Ersetzen und Ausgleichen des Prinzips Mangel produktiv. Etwa im Mittelalter-Komplex der ashkenasischen Rheinschiene mit Mainz, Worms, Speyer. Da lernt man, dass sich aus Buchstaben der drei Städte in Hebräisch das Kürzel Schum bildete: Es steht für Knoblauch. So macht man Alltagserfahrungen, im privaten, religiösen, ökonomischen, politischen Bezirk.
Aus der Gesamtdarstellung heben sich häufig Einzelfiguren, wie Glikl bas Juda Leib (Glückel von Hameln) im 17. Jahrhundert, die die Rolle der (Geschäfts-)Frau und Mutter von 14 Kindern vertritt und die ältesten bekannten Memoiren einer Jüdin verfasste. Von ihr ist die Strecke zur emanzipierten Bertha Pappenheim, Gründerin des Jüdischen Frauenbundes 1904, noch weit.
Wir belauschen das jiddische Gespräch von Viehhändlern: Da öffnet sich der Erfahrungsraum von Land- und Stadtjuden, Hausierern, Bankiers, ihren Drangsalen, Sonderabgaben, Schutzbriefen, den Launen und Profiftdenken der Landesherrn.
Glorreich glücklich scheint die Porträt-Galerie jüdischer Finanzberater und Unternehmer des 17./18. Jahrhunderts, doch die Rampe läuft zu auf Jud Süß Oppenheimer und seinen tödlichen ,Fall`. Andere fanden Auswege wie Levi (Löb) Strauss, der 1847 aus dem Fränkischen nach Amerika aufbrach und die ,Jeans` erfand.
Die Prominenz eines Aufklärers und "geistigen Vaters" wie Moses Mendelssohn und seiner Familie steht in Nachbarschaft zu weit weniger bekannten Geistesgrößen wie David Friedländer, der 1778 den Verlag Jüdische Freischule mit etablierte.
Die Etappen der Epochen und Daten, Personen und Ereignisse, Gegenstände und Gedanken verketten sich zu einem häufig illustrierten Gewirr. Biblisches Tohuwabohu: Das Banale plaziert sich neben Bedeutendem - verdrängt es und verwischt Linien. Mehr Themen als Thesen.
Auf den Kultus mit Schabbat koscherem Essen, Bar Mizwa, Hochzeitsritual, Kaddisch und Synagogen-Modellen folgt die bürgerliche gute Stube mit Flügel, Poesiealbum, Kinderwunschzettel und Ahnenporträts. Der Staatsbürger jüdischen Glaubens identifizierte und assimilierte sich. Doch der Versuch der Symbiose blieb einseitig - wie Heine schon trotz Taufe lernen musste oder Mahler oder Rathenau.
Ein Quickstepp durch die Epochen
Die Emanzipations-Bewegung, die unterschiedliche Richtungen wie die 48er-Revolution, Paulskirche, liberales, sozialdemokratisches oder sozialistisches Engagement und die Orientierung in Zionismus und Aliyah nahm mit neuen Leitbildern wie dem Boxer, "Muskeljuden" und einem starken schönen David, den Lesser Ury malte: Sie wurde gewaltsam beendet durch den Antisemitismus und seine monströsen Klischees (u.a. eines Hofpredigers Stoecker).
Noch einmal wächst jüdisches Leben zur Blüte in der Weimarer Republik:
KaDeWe, AEG und Ufa. In dieser Abteilung nimmt man vor lauter Repräsentanten den Einzelnen kaum noch wahr - und kapituliert. Und dann das Wüten der Nazi-Mörder. Hier gibt sich die Kollektion pietätvoll zurückhaltend: eine gelbe Stoffbahn mit Judensternen, das Kündigungsschreiben an Julius Bab, Deportationslisten oder das Fundstück eines KZ-Häftlings, der einen Dosendeckel zu einem Sieb umfunktionierte, um damit Rinde von Bäumen zu schaben.
Die Zeit nach `45 ist ein Quickstepp, in dem Anne Frank, Hannah Arendt und Hänschen Rosenthal, Fassbinder, Bubis und Walser tanzen. Und vor unseren müden Augen tanzt der sechseckige Davidstern.
(Lindenstraße 9-14, ab 12. September, täglich 10-20 Uhr,
Infos: 030/ 259 93 300; Eintritt: 10, ermäßigt fünf, Familienticket 20 DM, Katalog; www.jmberlin.de )
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Neuß-Grevenbroicher Zeitung Kultur 14.9.2001
Rau: Wichtiger Beitrag für das Zusammenleben
Jüdisches Museum für Publikum geöffnet
Berlin (rpo). Das Jüdische Museum Berlin hat am Donnerstagmorgen erstmals seine Tore für das breite Publikum geöffnet. Bereits vor zehn Uhr hatte sich eine kleine Schlange vor dem Libeskind-Bau in Berlin-Kreuzberg gebildet, sagte eine Museumssprecherin.
Da der Termin mit den allgemeinen Schweigeminuten zum Gedenken an die Terroropfer zusammen fiel, verharrten die ersten Besucher für fünf Minuten ruhig vor dem Museum.
Das Museum soll an sieben Tagen in der Woche von 10 bis 20 Uhr geöffnet bleiben. Die Veranstaltungen anlässlich der Museumseröffnung, die für die nächsten Tage - vom 13. September bis zum 17. September - geplant sind, werden wie angekündigt stattfinden. Das Museum zeigt anhand von rund 3.900 Exponaten die 2.000-jährige deutsch-jüdische Geschichte.
Die geplante Publikumsveranstaltung bei freiem Entritt am Dienstagabend war aus Trauer und Anteilnahme an den tragischen Ereignissen in den USA verschoben worden. Als wichtigen Beitrag für das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden in Deutschland hatte Bundespräsident Johannes Rau das neue Museum in Berlin bei der Eröffnungsfeier am Sonntagabend bezeichnet.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung Kultur 15.9.2001
Das Jüdische Museum - ein begehbares Buch
Kommentar
Von Katja Blomberg
10. Sep. 2001 Das eben eröffnete Jüdische Museum Berlin ist kein gewöhnliches Haus. Es beschäftigt sich mit dem schwersten Kapitel deutscher Vergangenheit und breitet darüber hinaus zwei Jahrtausende jüdischer Geschichte auf deutschem Boden aus. Unter der fachlichen Regie eines Deutsch-Amerikaners und der szenischen Aufbereitung eines Neuseeländers, entspricht es internationalen Ausstellungstendenzen, wie sie in einem Land, dass immer noch zu bürokratischer Nüchternheit tendiert, sofort Stirnrunzeln hervorruft. In diesem jungen Geschichtsmuseum werden nicht die Taten nationaler Helden gefeiert, sondern Leben und Schicksal deutscher Juden aus mehreren Jahrhunderten erzählt. In Daniel Libeskinds dramatischer Architektur sind neben wissenschaftlichen ganz alltägliche Dinge ausgebreitet. Sie alle sind vom Holocaust emotionalisiert: liebgewonnene Teddybären, Davidsterne als Meterware, ein einfaches Leinenhandtuch, Moses Mendelssohns schlichtes Brillengestell und sogar das Manuskript der Relativitätstheorie aus Albert Einsteins Feder. Exilantenpässe und Kinderbücher. Ob es die fünf Exilantenpässe von Irma Markus sind, oder eine Ausgabe des Kinderbuch-Bestsellers „Nesthäkchen" von Else Ury, Direktor W. Michael Blumenthal lädt das Publikum ein an kultureller Vergangenheit teilzunehmen, um „mit Blick auf die gesellschaftlichen Probleme der Gegenwart und der Zukunft aus ihr zu lernen." Dafür hat der 1926 in Oranienburg bei Berlin geborene Amerikaner bewusst eine Vermitlungsform gewählt, die Geschichte an exemplarischen Einzelschicksalen deutlich macht: Während Irma Markus mit einem britischen Pass von 1939, einem tschechischen (1942), einem brasilianischen (1946), einem bolivianischen (1953) und schließlich mit einem amerikanischen Pass von 1960 in den Vereinigten Staaten überlebt, wird die Bestseller-Autorin des vielgeliebten „Nesthäkchens", Else Ury, 1943 in Auschwitz ermordet. Ohne Pathos stehen zwei Frauenschicksale Pate für tausende andere. Sorgfältig und doch nicht aufdringlich liefern Touchscreens oder Wandtafeln Information für diejenigen, die mehr wissen wollen. Geschichte entlang thematischer Achsen Geschichte wird hier entlang thematischer Achsen erzählt. Sie spiegeln sich im Gebäude wider. So führen drei „Straßenrampen" durch den Untergrund von Daniel Libeskinds sprechender Architektur: Von einer Kreuzung aus kann der Besucher unterschiedliche Wege in die rettende Fremde, in den Tod, in die Vergangenheit oder in die Gegenwart wählen. Dabei müssen die Wege, die ins Exil oder in die Vernichtung führen, in Sackgassen enden.
Ebenso wie die brüchig eingeschlitzten Fenster des Hauses, dienen die Sackgassen inhaltlichen Zwecken und sind keineswegs Folge unübersichtlicher Fehlplanung.
In die Gegenwart gelangt der Besucher - immer noch im Kellergeschoss - einzeln oder in Gruppen im „Rafael Roth Lerning Center". Rafael Roth hat dieses Informationszentrum mit einem mehrstelligen Millionenbetrag ermöglicht. Über Datenbanken kann hier jeder interaktiv Fakten und Wissen zur Geschichte der Juden in Deutschland abfragen. Die Bedienung der Terminals ist idiotensicher und die Atmosphäre einladend und kommunikativ.
Ein Rundgang, der mit dem Unwissen rechnet.
Mit diesem Wissen im geistigen Gepäck, begibt man sich auf dem vierten Weg, der „Kontinuität" verspricht, hinauf in den Zick-Zack-Bau von Daniel Libeskind. Dort breitet sich jüdische Geschichte chronologisch, szenisch und biographisch aus. Das Museum will vor allem emotional mitreißen, wenn das Frauenleben der Glikl bas Juda Leib aus dem 17. Jahrhundert angedeutet wird, oder von Land- und Hofjuden, von Weihnachtsriten und koscherem Essen die Rede ist. Freilich muss man das Konzept mit etwas Phantasie auch erfassen wollen und nicht ständig nach Führung und Sachlichkeit fragen. Man muss sich auf einen Rundgang einlassen, der deutlich und zu Recht mit dem Unwissen nicht nur jüngerer Zeitgenossen rechnet. Nur wenige Deutsche kennen jüdisches Leben aus der eigenen Alltagswelt. Nicht viele können Juden zu ihren engsten Freunden zählen. Das neue Museum mag einigen zu wenig wissenschaftlich sein und zu sehr mit plakativen Mitteln und Kopien arbeiten. Aber in einem Geschichtsmuseum kommt es schließlich nicht in erster Linie auf ästhetischen Genuss an. Es geht vielmehr darum, Zusammenhänge erlebbar zu machen, ein begehbares Buch zu schaffen, das zur Beschäftigung mit Kultur und Vergangenheit einlädt und sogar verführt. Da kann man zur Veranschaulichung auch Faksimiles von Urkunden vergrößern, die man sonst nur mit starken Augengläsern entziffern könnte: Zwangstaufe und Mord an Juden wurden in einem päpstlichen Privileg schon 1246 verboten.
Viele haben gewünscht, dass der erlebnisreiche Bau von Daniel Libeskind als begehbare Skulptur bestehen bleibt und nicht mit einer Sammlung jüdischer Zeugnisse gefüllt wird. Nach der Eröffnung zeigt sich, dass Haus und Ausstellung hervorragend miteinander harmonieren. Und doch könnte die Architektur ohne die Sammlung, nicht aber die Sammlung ohne die Architektur bestehen. Ohne Libeskind würde das Ausstellungskonzept von Kenneth C. Gorbey schon wieder konventionell erscheinen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung: 15. September 2001
Interview
Julius H. Schoeps: Jüdisches Museum eine Enttäuschung
10. Sep. 2001 Das Jüdische Museum in Berlin, das am Dienstag der Öffentlichkeit übergeben wird, nennt sich selbst das „größte Jüdische Museum der Welt". Diese Angabe lädt zu einem Missverständnis ein. Denn am größten ist das Haus allenfalls vom Raumvolumen her. Die Sammlung kann mit denen anderer jüdischer Museen in Europa nicht mithalten. Julius H. Schoeps, ehemaliger Gründungsdirektor des Jüdischen Museums in Wien und heute Leiter des Moses-Mendelssohn-Zentrums in Potsdam, teilte FAZ.NET vom Handy aus seine Eindrücke mit.
Herr Schoeps, wir erwischen Sie unterwegs. Ich komme gerade von der Pressekonferenz des Jüdischen Museums. Wie war's?
Es wurden interessante Fragen gestellt. Zum Beispiel die, warum der Untertitel „2000 Jahre deutsch-jüdischer Geschichte" lautet, wo doch das Wort „deutsch" erstmals um 1180 erwähnt wurde. Wie wurde die Frage beantwortet?
Es wurde gesagt, dass es sich eben um das deutsche Territorium handele.
Wie gefällt Ihnen die Sammlung?
Ein Drittel sind Leihgaben. Darunter ist absolut nichts Neues. Das kennt man alles. Ein Problem ist auch die Anordnung. Wenn Sie durchlaufen, wissen Sie nicht, wo der Anfang und wo das Ende ist. Man wird nicht eindeutig geführt. Das Museum ähnelt einer Strippe mit vielen Perlen. Ich bin enttäuscht. Ich hatte mir mehr erwartet. Man weiß eigentlich nicht so richtig, was das alles soll, was für eine Botschaft vermittelt werden soll. Ich bin gespannt, was in den nächsten Tage darüber geschrieben wird.
Entspricht die Sammlung derjenigen des vormaligen Berlin-Museums?
Zum Teil sind das Objekte von dort. Ein Drittel etwa sind, wie gesagt, Leihgaben von außerhalb. Vieles kommt aus gar keiner Sammlung. Das sind Reproduktionen, die auf große Formate hochgezogen sind. Das Ereignis, wie alle meinen, ist das Museum jedenfalls nicht. Wir haben in Berlin schon bessere Ausstellungen zum jüdischen Leben gesehen, etwa die „Jüdischen Lebenswelten" 1992. Mit dieser Ausstellung lässt sich die jetzt gezeigte Ausstellung nicht vergleichen.
Wie harmoniert die Sammlung mit dem Gebäude von Libeskind?
Sie kämpft gegen die Architektur.
Das ist schon schwierig genug. Die Architektur ist sehr ausdrucksstark. Wie war die Eröffnung am Sonntagabend?
Es waren viele Leute da, Leute aus Politik, Kultur und Wissenschaft, Menschen, die sich alle für wichtig halten und wichtig sind. Wenn man Sie so hört, hat man den Eindruck, dass sich das Berliner Museum mit anderen Jüdischen Museen in Europa nicht messen kann. Dabei nennt es sich doch selbst das „größte Jüdische Museum der Welt". Was da Raumvolumen betrifft, ist es das größte. Was die Inhalte betrifft, gehört es zu den kleineren. Die größten Bestände in Europa hat das Wiener Jüdische Museum neben dem Prager. Dann kommt Paris, dann kommt lange nichts. Der Grund dafür: Die Jüdischen Sammlungen in Berlin wurden während des Krieges in alle Winde zerstreut. Die in Wien hat man zum großten Teil wieder gefunden. Das Pariser Museum ist ja ein rein kulturhistorisches Museum, mit vielen Kultgegenständen. Wie ist das denn jetzt in Berlin. So ganz ohne Aussage wird das Museum doch nicht sein.
Wenn das Museum eine Botschaft hat, dann habe ich die noch nicht richtig verstanden. Sie laufen durch und wissen nicht so richtig:
Was wollen denn die Ausstellungsmacher sagen? Mag sein, dass es auf den, der so etwas noch nicht gesehen hat, inspirierend wirkt. Dem Fachmann bringt es kaum etwas.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung: 15. September 2001
FAZ.NET-Rundgang
Das Jüdische Museum in Berlin ist eröffnet
Von Katja Blomberg, Berlin
9. Sep. 2001 Das Jüdische Museum in Berlin ist am Sonntag feierlich eingeweiht worden. Das spektakuläre Gebäude des amerikanischen Architekten Daniel Libeskind in der Form eines geborstenen Davidsterns hat damit jetzt auch eine Sammlung. Der erste Eindruck war positiv: Die vielfach geäußerte Sorge, dass das verwinkelte, skulpturhafte Gebäude zu sperrig und symbolbeladen für eine Sammlung sei, bestätigte sich bei dem ersten Rundgang nicht. Die Sammlung fügt sich harmonisch in die Räume ein.
Der Rundgang beginnt im verliesartigen Untergeschoß
Der Rundgang beginnt im verliesartigen Untergeschoss. Dort eröffnen drei Rampen unterschiedliche Dimensionen deutsch-jüdischer Geschichte: Man beginnt mit der Achse des Holocaust, die in dem völlig leeren Holocaust-Turm endet.
Auf dieser Achse begegnet der Besucher in kleinen, ausgeleuchteten Vitrinen ergreifenden exemplarischen Schicksalen des Holocaust, veranschaulicht durch Briefe oder Spielsachen von Kindern.
Es folgt die Achse des Exils mit Städten, an denen deutsche Juden ein neues, nicht selten sehr erfolgreiches Leben begannen, etwa Stockholm, Tel Aviv, San Francisco oder Hollywood. Schließlich folgt die Achse der Kontinuität, einer Kontinuität, die zunächst in eine wechselhafte Vergangenheit zurückführt, bevor sie in der Gegenwart ankommt. Von dieser Achse gelangt man in die oberen Etagen des Museums. Hier erwartet den Besucher ein Granatapfelbaum - Symbol der Weisheit und der Tora. Mit ihm beginnt der Rundgang durch fast 2.000 Jahre deutsch-jüdischer Geschichte. Man kommt vorbei an einer Kopie der Synagoge aus dem Bamberger Dom, einer der eindrucksvollsten Darstellungen des Judentums im Mittelalter - wobei die Personifikation der Synagoge immer im Zusammenhang und als Gegenstück zur Personifikation der Ecclesia zu sehen war.
Viele Faksimiles und wohldosierte Information Der Rundgang führt zum großen Teil an Faksimiles vorbei. Die Ausstellung ist somit Ausdruck jener Leere, die Libeskind in seinem Bauwerk durch Voids ausdrückte. Diese Voids symbolisieren die Leere, die der Holocaust im jüdischen Leben in Deutschland hinterlassen hat. Anders als etwa in Paris, wo vor wenigen Jahren ein mit Kultgegenständen opulent ausgestattetes Jüdisches Museum eröffnete, ist das Berliner Museum mit Kultgegenständen eher spärlich ausgestattet.Dennoch macht das Museum Lust, sich mit der jüdisch-deutschen Geschichte und mit jüdischen Ritualen und Feiertagen zu befassen, und die vielen Multimedia-Stationen geben auch gleich die Möglichkeit, der frisch geweckten Neugier nachzugehen. Der Rundgang endet mit einem eindrucksvollen Kunstwerk des israelischen Künstlers Menaske Kadishman - einer Installation mit dem Titel „Fallen Leaves", die schreiende Gesichter darstellt. In der Art der Präsentation ist das Jüdische Museum eher konventionell. Es will trotz des Einsatzes von Multimedia-Elementen nicht zwanghaft innovativ sein. Doch es vermittelt dadurch eine Ausgeruhtheit, die gut dem Ziel entspricht, auch etwas von der Normalität deutsch-jüdischen Zusammenlebens zu vermitteln. Der Holocaust - „nicht die Summe deutsch-jüdischer Geschichte"Bundespräsident Rau erinnerte nach einem beeindruckenden Konzert des Chicago Symphony Orchestra in der Philharmonie vor rund 850 Gästen - darunter neben Bundeskanzler Gerhard Schröder viel internationale Prominenz - daran, dass die jüdische Kultur zu den „Wurzeln Europas" gehöre. Heute wüssten viele Menschen von der Geschichte der Juden in Deutschland nur, dass die Nationalsozialisten den Massenmord an den europäischen Juden geplant und begangen hätten. „Wir müssen die Erinnerung an diese Katastrophe wach halten", sagte Rau. Dies dürfe aber nicht zu Fehlschlüssen führen, dass der Holocaust die Summe der deutsch-jüdischen Geschichte sei.
Das Jüdische Museum schließt mit seinen rund 3.900 Objekten an jenes Jüdische Museum an, das 1933 in der Oranienburger Straße eröffnet worden war und nur fünf Jahre später von der Gestapo geschlossen wurde. Der Bund wird es künftig mit 24,2 Millionen Mark (rund 12,37 Millionen Euro) im Jahr fördern.
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