BMI Internetredaktion

Pressemitteilung Nr. 126

Veröffentlicht am 10. Mai 2001

Themen: Kirchen- und Religionsgemeinschaften, Politische Bildung

 

 

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BMI Pressemitteilung: Einweihung des Ignatz-Bubis-Lehrstuhls

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Rede des Bundesinnenministers Otto Schily, anlässlich der Einweihung des Ignatz-Bubis-Lehrstuhls

an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg, am 10. Mai 2001

 

http://www.bmi.bund.de/frameset/index.jsp

 

 

Einweihung des Ignatz-Bubis-Lehrstuhls

(Es gilt das gesprochene Wort.)

 

 

Anrede!

 

Herr Bundeskanzler Schröder bedauert es, dass er die zunächst gegebene Zusage wegen anderer Termine heute nicht einhalten kann. Er hat mich gebeten, Ihnen seine Grüße zu übermitteln.

Zur Einweihung des Lehrstuhles einer Hochschule zu sprechen ist für ein Mitglied der Bundesregierung und zumal für den Bundesinnenminister eine ungewöhnliche Aufgabe. Hochschulen sind im allgemeinen Ländersache. Die Hochschule für Jüdische Studien ist aber etwas ganz Besonderes. Bund und Länder nehmen an ihr seit ihrem Bestehen, also seit 1979, in gleicher Weise Anteil. Dies drückt sich unter anderem auch in einer gemeinsamen Förderung dieser in Deutschland einmaligen Institution aus.

Die Weitergabe der Lehre hat für die jüdische Gemeinschaft in aller Welt seit jeher eine existenzielle Bedeutung.

In der Bibel findet sich an vielen Stellen das Lob der Weisheit und der Lehre. In den Sprüchen Salomos wird die Weisheit personifiziert, sie spricht in der Ich-Form und teilt mit, dass sie von dem Schöpfer eingesetzt wurde, ehe die Erde entstand.

Sie spricht demjenigen, der sie findet, Leben zu (Sprüche Salomos, 8,35) und mahnt: "Wohl dem Menschen, der mir gehorcht, dass er wache an meiner Tür täglich, dass er hüte die Pfosten meiner Tore" (Sprüche Salomos 8,34).

In dem auch in der rabbinischen Literatur vielzitierten Buch Jesus Sirach heißt es in Kapitel 24, das ein Hohelied der Weisheit enthält: "Wer von mir isst, den hungert immer nach mir; und wer von mir trinkt, den dürstet immer nach mir. Wer mir gehorcht, der wird nicht zuschanden." (Buch Jesus Sirach 24,28-30).

Auch die in Deutschland lebende jüdische Gemeinschaft steht über Jahrhunderte in dieser Tradition der Hochschätzung von Weisheit und Lehre. Wir haben jüdischer Gelehrsamkeit viel zu verdanken. Gerade das mittelalterliche Judentum, dessen Studium der heute einzuweihende Lehrstuhl vor allem anderen gewidmet sein soll, hat - wie Sie in Ihrem Exposé, sehr verehrter Herr Professor Graetz, ausführen - Glanzwerke rabbinischer Literatur, jüdischer Philosophie und profaner hebräischer Poesie und Prosa hinterlassen, die uns Heutigen noch etwas zu sagen haben.

Trotz vieler Verfolgungen und Vertreibungen konnten die in Deutschland lebenden Juden die Tradition der Weitergabe ihrer Lehre in früheren Jahrhunderten stets kontinuierlich fortsetzen. Erst die nationalsozialistische Gewaltherrschaft hat im 20.Jahrhundert die lange Kette der Tradierung jüdischen Wissens brutal unterbrochen. Die jüdischen Lehrer wurden verfolgt und zum großen Teil umgebracht, die meisten Synagogen wurden zerstört und die jüdischen Lehranstalten geschlossen. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis sich die kleine verbleibende jüdische Gemeinschaft in Deutschland entschließen konnte, wieder an die Lehrtradition in diesem Lande anzuknüpfen und eine neue Lehranstalt zu gründen. 1979 entstand unter der Trägerschaft des Zentralrates der Juden in Deutschland die Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg, deren wissenschaftliche Reputation in den vergangenen 22 Jahren kontinuierlich gewachsen ist.

Die führende Persönlichkeit des deutschen Judentums im vorigen Jahrhundert, der Rabbiner und Philosoph Leo Baeck, fühlte sich zeitlebens dem Geist der Wissenschaft, insbesondere der Wissenschaft des Judentums, tief verbunden. Er wirkte an der Lehranstalt und späteren Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin, einer Institution, in deren Tradition und Nachfolge sich die Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg sieht. Die Hochschule in Berlin wurde 1939 von der Gestapo geschlossen, Leo Baeck setzte seine Lehrtätigkeit mit den letzten verbliebenen Hörern bis 1942 heimlich unter ständiger Gefahr der Verhaftung fort.

Die Erlangung von Wissen hatte für Baeck neben der religiösen Dimension etwas zutiefst Humanes. In einem Aufsatz "Israel und das deutsche Volk" im Merkur 1952 (S.901 ff.) schrieb er: "Man kann fragen, was das Frühere war: das Schwinden der Sachlichkeit oder das Schwinden der Menschlichkeit? Aber beide hängen zusammen, das eine bewirkt immer das andere - man vergisst zu oft, welche menschliche Gefahr der Mangel an Sachlichkeit bedeutet."

Für Leo Baeck bedeutet Wissenschaft, sich der Sachlichkeit in diesem Sinne verpflichtet zu fühlen. Baeck verabscheute Halbwissen, das von sentimentalen Gefühlen, seien es die der Zuneigung oder die der Abneigung, bestimmt ist.

Baeck stellte eine paradoxe, nur scheinbar geringe Forderung an den Gelehrten:

Auf dem ungeheuer weiten Feld alles möglichen Wissens sollte er nur einen Quadratmillimeter, den aber vollkommen, erforschen. Das genüge, meinte Baeck, um gültige Erkenntnisse auch auf wenig vertrauten Gebieten zu gewinnen.

Der Ignatz-Bubis-Lehrstuhl ist eingerichtet für "Religion, Geschichte und Kultur des europäischen Judentums unter besonderer Berücksichtigung des Mittelalters und der Neuzeit". Auf diesem weiten Feld ist wahrlich Platz für viele "Quadratmillimeter Wissen". Der Lehrstuhl ist eine bedeutsame Erweiterung des Lehrangebots in der Geschichte der Hochschule, die in den letzten Jahren ständige Fortschritte zu verzeichnen hatte. Zu diesem Fortschritt gehört u.a. die Erlangung des Promotionsrechts und die Möglichkeit, Religionslehrer mit Staatsexamen ausbilden zu können.

Mit dem Lehrstuhl sollen die Voraussetzungen für den Erwerb des Rabbinats geschaffen werden. Die Frage einer Rabbinerausbildung für deutschsprachige Rabbiner und andere Kultusbeamte, die hierzulande die notwendigen Aufgaben in den Gemeinden übernehmen können, hat sich in den letzten Jahren mit zunehmender Dringlichkeit gestellt.

Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland hat noch längst nicht wieder die Größe und Bedeutung der Vorkriegszeit erreicht. Sie ist immer noch eine kleine Minderheit, für deren Schutz und Förderung unsere Gesellschaft in besonderer Verantwortung steht. Durch den Zuzug aus den GUS-Staaten hat sich die jüdische Gemeinschaft aber verdreifacht, eine erfreuliche Entwicklung, da sie die Fortexistenz jüdischen Lebens in Deutschland sichern kann.

Angesichts der herausragenden Bedeutung von Lernen und Lehren für das Judentum werden nun aber auch in den jüdischen Gemeinden mehr Religionslehrer, Rabbiner und Kantoren gebraucht. Sie tragen dazu bei, dass sich die Zuwanderer in die jüdische Gemeinschaft integrieren.

Nachdem es gelungen ist, die Einrichtung eines Studienganges für Religionslehrer mit Hilfe von Bund und Ländern auf eine finanzielle Grundlage zu stellen, freue ich mich, dass der Ignatz-Bubis-Lehrstuhl mit Stiftungsmitteln errichtet werden kann und schließe mich dem Dank an Herrn Beitz und die Krupp-Stiftung an.

Das von Ihnen, sehr geehrter Herr Professor Graetz, vorgelegte Konzept einer Rabbinerausbildung in zwei Schritten halte ich für überzeugend.

Eine vertraglich Kooperation mit den von Ihnen genannten ausländischen Rabbinerseminaren in Jerusalem, New York und London berücksichtigt nicht nur die Gegebenheiten einer noch kleinen jüdischen Gemeinschaft, sondern wird sich sicher auch als Bereicherung im Sinne eines fruchtbaren Austausches erweisen, wie sie bereits jetzt die bekannte ausgezeichnete Zusammenarbeit mit der Universität Heidelberg mit sich bringt.

Gestatten Sie mir, dass ich in diesem Zusammenhang auch andere Institutionen in der Bundesrepublik Deutschland erwähne, u.a. das Moses-Mendelssohn-Zentrum in Potsdam. Ich hoffe, dass es auch im Hinblick auf die geplante Rabbinerausbildung zwischen der Hochschule für Jüdische Studien und anderen Einrichtungen, die sich mit dem Judentum befassen, zu einer gedeihlichen Zusammenarbeit kommt.

In der jüdischen wie auch in der christlichen Tradition spielt die geistliche Musik eine wichtige Rolle. Man kann sich der religiösen Überlieferung durch Wort und Schrift nähern, man kann sie sich aber auch "ins Herz singen". Die Bedeutung, die der Kantor in der jüdischen Synagoge hat, ist bekannt. Ich halte es deshalb für sehr begrüßenswert und erfreulich, dass sich die Hochschule auch der Aufgabe einer Ausbildung von Kantoren annehmen will, wie sich aus dem vorgelegten Konzept ergibt. Sie, Herr Izsák, sind als Direktor des Europäischen Zentrums für Jüdische Musik für diese Aufgabe bestens qualifiziert. Ihre Verdienste um die Wiederentdeckung der verlorenen und vergessenen Musik der Synagoge werden im Bundesinnenministerium geschätzt und daher im Rahmen unserer Möglichkeiten auch gefördert. Ich danke Ihnen und dem Hochschulchor für die eindrucksvolle Darbietung der Vertonung jüdischer Psalmen von Louis Lewandowski, dessen Werk in Deutschland vor allem dank Ihrer Bemühungen wieder zum Klingen gebracht wird.

Der Zentralrat der Juden in Deutschland hat als Träger der Hochschule den Lehrstuhl nach seinem früheren, zu früh verstorbenen Präsidenten benannt. Nur auf den ersten Blick könnte diese Namensgebung verwunderlich erscheinen:

Ignatz Bubis sel. Anged. war kein Mann der Wissenschaft, kein Gelehrter. Sein durch die nationalsozialistische Verfolgung früh geprägter Lebensweg hat den Gedanken an ein Studium oder gar eine akademische Laufbahn nicht zugelassen. Dennoch hat es einen guten Sinn, diesen Lehrstuhl nach ihm zu benennen. Ignatz Bubis sel. Anged. war keiner der zahlreichen Lobbyisten oder Interessenvertreter der im politischen Bonn oder Berlin vertretenen Interessengruppen oder Verbände.

Er hatte eine von Staat und Gesellschaft hoch respektierte und anerkannte Stellung, die er kraft seiner unvergessenen Persönlichkeit in besonderer Weise ausfüllte. Ihn kennzeichneten intellektuelle Redlichkeit, eine klare Sprache und unsentimentale Offenheit, gleichzeitig trat er uns aber auch freundlich, liebenswürdig und humorvoll gegenüber. Er hat deutlich gemacht, dass er eine besondere Gemeinschaft vertritt: eine Gemeinschaft, die in Deutschland eine über 1000-jährige Geschichte gehabt hat mit Höhen aber mit noch mehr Tiefen, die schließlich das schreckliche Verbrechen der Shoah erleiden musste.

Bubis hat sich bis zur Grenze seiner Leistungskraft dafür eingesetzt, dass die Menschen aus der jüngsten Geschichte lernen sollen, damit sich Ähnliches nie wieder, auch nicht ansatzweise, wiederholt. Hervorzuheben sind besonders sein Einsatz bei jungen Menschen, seine nicht zu zählenden Besuche von Schulen und Jugendorganisationen. Es war für uns, die wir uns Ignatz Bubis verbunden fühlten, sehr schmerzlich, von seiner Enttäuschung und Resignation kurz vor seinem Tode zu erfahren. Er hatte angesichts rechtsextremistischer und antisemitischer Erscheinungen in Deutschland das Gefühl, nichts bewirkt zu haben. Wenn wir an die Welle rechtsextremer, von irrationalem Hass geprägter Straftaten im vergangenen Jahr denken, haben auch diejenigen, die Bubis damals gern noch widersprochen hätten, nachträgliches Verständnis. Wir dürfen aber keineswegs in eine resignative Haltung verfallen, sondern müssen diesen Ungeist mit allen staatlichen und gesellschaftlichen Mitteln bekämpfen. Die Bundesregierung weiß sich in der Pflicht, den Kampf gegen Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit zu verstärken. Beispiel für die Entschlossenheit der Bundesregierung sind der Antrag auf Verbot der NPD und das Aussteigerprogramm für die rechtsextreme Szene. Repressive und präventive Maßnahmen gehören gleichermaßen zu unserer Strategie. Aber es bedarf darüber hinaus eines gesamtgesellschaftlichen Engagements. Jeder Einzelne sollte sich verpflichtet fühlen, den Anfang bereits bei verbalen Attacken - und das fängt schon bei dummen Bemerkungen oder schlechten Witzen an - im vergangenen Jahr zu machen und diesen im Familienkreis, im Büro, im Verein, in der Kneipe energisch entgegenzutreten.

Gegen Vorurteile und Diffamierungen, gegen wen sie sich auch richten, ist sachlicher Widerspruch dringend geboten. Denn hier beginnt bereits das Schwinden der Sachlichkeit, das Leo Baeck zu Recht als den Beginn des Schwindens der Menschlichkeit beklagt hat.

Sie, lieber Herr Spiegel, haben als Nachfolger von Herrn Bubis die Entwicklung im letzten Jahr ebenfalls mit Sorge verfolgt. Dennoch haben Sie in einem jüngst erschienenen Interview ("Welt am Sonntag" vom 22. April 2001) zu der Frage der jüdischen Zuwanderer und zur Entwicklung der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland folgende hoffnungsvolle Worte gesagt: "Wenn es uns Alteingesessenen gelingt, diese Menschen zu integrieren, das heißt ihnen nicht nur die deutsche Sprache, sondern auch die jüdischen Werte zu vermitteln, dann stehen wir vor einer großen Renaissance des Judentums in Deutschland".

Ich möchte mit Ihnen, Herr Spiegel hoffen, dass Sie mit Ihrer Prognose recht behalten werden. Eine solche Entwicklung wäre nicht nur für die jüdische Gemeinschaft, sondern auch für die gesamte deutsche Gesellschaft eine Bereicherung.

Mit der Einrichtung des Ignatz-Bubis-Lehrstuhls haben Zentralrat und Hochschule einen wichtigen Schritt in Richtung dieses Ziels getan.

Ich wünsche allen Lehrenden und Lernenden am Ignatz-Bubis-Lehrstuhl eine gelingende wissenschaftliche Arbeit, Freude an den vor ihnen liegenden Aufgaben und eine weite Ausstrahlung in Wissenschaft und Gesellschaft.

 

***** ENDE ******