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Frankfurter Rundschau Politik 1.5.2001 22:52

 

Gräber unter grüner Wiese

 

Mitten in Ludwigslust sollen 200 Granitplatten an 200 KZ-Tote erinnern, die manch einer gern vergessen hätte [von Monika M. Metzner (Ludwigslust)]

Vier Jahrzehnte lang ist Gras über die Gräber gewachsen. Ein Gelände mit 200 Toten, die unter einem Rasen liegen, erstreckt sich am Rande des Stadtkerns vom Schlossplatz bis zur Stadtkirche. Hier können Kinder über ein Spielfeld toben, Leute ihre Hunde ausführen, Liebespaare sich im Schutz hoher Bäume umarmen, ohne sich bewusst zu sein, auf welchen Boden sie treten. Nur wer hinter den Wasserspielen, die den Schlossplatz vom Weg zur Stadtkirche trennen, die Informationstafel liest und den großen Sandsteinkubus beachtet, wird daran erinnert, was die grüne Wiese verbirgt: die Gebeine von 200 Toten, die zu den letzten Opfern eines Konzentrationslagers gehörten. 

Ludwigslust, südlich der mecklenburg-vorpommerschen Hauptstadt Schwerin gelegen, am heutigen 2. Mai 2001: Zum 56. Jahrestag der Befreiung durch Angehörige der 82. US-Luftlandedivision wird in diesem Jahr "eine ganz besondere Gedenkveranstaltung stattfinden", wie Landrat Rolf Christiansen in seiner Einladung schreibt. Auf der grünen Wiese zwischen Schlossplatz und Stadtkirche soll die KZ-Gräberstätte sichtbar gemacht werden. 149 Granitplatten mit Kreuzen, 51 Granitplatten mit dem Davidstern werden künftig wieder unübersehbar an den Ort erinnern, an dem im Mai 1945 amerikanische Militärs 200 Opfer aus vielen Ländern Europas, die den Tag der Befreiung im nahe gelegenen Konzentrationslager Wöbbelin nicht überlebten, in Einzelgräbern bestatten ließen. 

Vierzig Jahre lang hatten die Menschen in Ludwigslust es nicht ertragen müssen, sich ständig dort an die Grauen der Vergangenheit zu erinnern, wo sie lieber flanieren gingen. Doch dann ernannte im letzten Jahr die Stadt den US-Amerikaner Leonard Linton zu ihrem Ehrenbürger, und der war befremdet über den Zustand der Gräber, die unter Gras verschwunden waren. Linton schlug vor, aus öffentlichen und privaten Mitteln auf die Grabstellen Granitplatten zu setzen, so wie schon einmal erst Kreuze, später Sandsteinplatten die letzte Ruhestätte der 200 KZ-Opfer an dieser Stelle in Ludwigslust markiert hatten. 

Ex-Corporal Leonard Linton war am 2. Mai 1945 dabei, als US-Fallschirmjäger das Konzentrationslager im nur wenige Kilometer entfernten Wöbbelin befreiten. Der heute Achtzigjährige, der fließend Deutsch spricht und im US-Bundesstaat New York seinen Lebensabend verbringt, erinnert sich, als wenn es gestern gewesen wäre: "Es war ein furchtbarer Anblick, überall lagen Tote, einfach weggeschmissen." Erst wurden die Lebenden versorgt, von denen viele nicht zu retten waren. Die Toten aber sollten ehrenvoll bestattet werden. Linton: "Der Ort zwischen Schlossplatz und Kirche war der beste Platz, um ihnen eine würdige Beerdigung zu geben. Jeder sollte ein Einzelgrab haben wie unsere Soldaten, die im Gefecht fielen."

Und den Deutschen sollte eine Lektion erteilt werden. Die Bevölkerung von Ludwigslust musste die Gräber ausheben, die Leichen in Tücher - aus den eigenen Wäscheschränken - legen, weiße Holzkreuze, einige mit Davidsternen, anfertigen.

Und an der Beerdigung am 8. Mai mussten nicht nur Bürgerinnen und Bürger teilnehmen, auch der Leitungsstab der 21. Wehrmachtsarmee, die sich den Amerikanern in Ludwigslust ergeben hatte, wurde zur Bestattungszeremonie befohlen. "Alle sollten sehen, welche Schande geschehen war", so Linton, der berichtet, "dass einige Zivilisten ärgerlich erzählten, sie hätten nichts mit dem Konzentrationslager zu tun gehabt und fast nichts von seiner Existenz gewusst, nur wenige Kilometer von Ludwigslust entfernt."

Wöbbelin existierte nur zehn Wochen, vom 12. Februar bis zum 2. Mai 1945. Es war als Außenstelle des nahe Hamburg gelegenen Konzentrationslagers Neuengamme notdürftig errichtet, nie fertiggestellt worden und es diente als Auffanglager für Todesmärsche, auf die Häftlinge gegen Kriegsende getrieben wurden, um die Spuren in den großen KZs zu verwischen. In den Baracken gab es nur nackten Sandboden, statt Fenstern und Türen schwarze Löcher. Die Dächer waren undicht und Betten nicht vorhanden. Es gab im ganzen Lager nur eine Handpumpe für Wasser, das verpestet war und stank. Im Waschraum wurden Leichen gestapelt, und Kranke lagen hilflos auf nackten Böden, bis sie starben. Es gab kein Essgeschirr für die seltene, dünne Suppe und es gilt als erwiesen, dass Häftlinge vereinzelt zu Kannibalen wurden.

 "Die grauenvollen Zustände im Lager Wöbbelin entsprachen nicht den primitivsten Anforderungen an einen Massenaufenthalt von Menschen", schreibt Franz Unikower in seinem Erinnerungsbericht. Der spätere Justiziar der jüdischen Gemeinde Hessen wusste, wovon er sprach: Er hatte Auschwitz, Mittelbau-Dora, Ravensbrück überlebt und wurde in Wöbbelin befreit. Unikower und andere bezeichneten Wöbbelin als das schlimmste und unhygienischste aller Lager: "Überall herrschte furchtbarer Gestank und ein unbeschreiblicher Schmutz . . ." 

Ohne Gaskammern, ohne Massenexekutionen war Wöbbelin ein Vernichtungslager. In den zehn Wochen starben täglich 60 bis 100 Menschen, insgesamt mehr als 1000 von etwa 5000. 

Die amerikanischen Befreier fanden das KZ durch Zufall. Drei zu Skeletten abgemagerte Häftlinge, die nach Ludwigslust gelaufen waren, als die SS sich abgesetzt hatte, wiesen ihnen den Weg. "Wir konnten das Wöbbeliner Konzentrationslager riechen, bevor wir es sehen konnten", schreibt General James M. Gavin, Kommandeur der US-Division, in seinen Erinnerungen. Leonard Linton hat den Geruch bis heute nicht vergessen: "Er ist gegenwärtig, sobald ich an Wöbbelin denke." Die Amerikaner ließen die Bevölkerung der Gemeinde und der angrenzenden Ortschaften, von denen auch hier viele sagten, sie hätten nichts gewusst, an ihrem Entsetzen teilnehmen: Zivilisten mussten durch das Lager defilieren. Einer, der sich erinnert, sagt heute: "Es war so schlimm, wie es auf Fotos zu sehen ist." 

Im Ortskern von Wöbbelin steht eine Mahn- und Gedenkstätte. Seit 1995 zeigt eine Ausstellung, was 1945 nur wenige Kilometer außerhalb der Gemeinde geschah. 

Zwar hatte schon die DDR der KZ-Toten gedacht, indem sie seit 1965 in einem Haus Platz für ein paar Informationstafeln einräumte. Bis dahin aber war das Gebäude ausschließlich dem - auch von den Nazis verehrten - Dichter der Kriegsgesänge gegen das napoleonische Frankreich, Theodor Körner, gewidmet. 

Sein Grab und ein Denkmal liegen in einem angrenzenden Hain, gleich neben Gräbern, wo 1945 ebenfalls Tote des Lagers bestattet wurden. 

Mit dem Untergang der DDR kam auch in Wöbbelin die Wende: Zwar gibt es weiterhin im Haus das Körner-Museum, eine "gewiss einzigartige Präsentation von zwei so gegensätzlichen Phänomenen der deutschen Geschichte", so ein Broschürentext. Schwerpunkt aber ist heute die Gedenkarbeit an die nationalsozialistischen Verbrechen.

Edeltraut Schure ist seit 1990 Leiterin der Gedenkstätte. Die ehemalige Lehrerin an einer Polytechnischen Oberschule in Wöbbelin hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Zusammenarbeit mit Schulen und Begegnungen junger Menschen an diesem Ort - "auch angesichts zunehmender Verbreitung rechtsradikalen Gedankenguts zumal unter Jugendlichen" - besonders zu fördern. Regelmäßig wird in Jugendsommerlagern neben der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit handfeste Arbeit geleistet: Pflege der Gräber, Grabungsarbeiten und Spurensuche auf dem KZ-Gelände. Schulklassen treffen mit Zeitzeugen zusammen - wie unlängst wieder mit dem Hamburger Filmproduzenten Gyula Trebitsch, der ebenfalls in Wöbbelin befreit wurde. "In Ludwigslust und auch hier", sagt er, "taten alle, als ob sie von nichts wüssten." 

Dass die Verbrechen der nationalsozialistischen Vergangenheit im Bewusstsein der Menschen bleiben, dafür haben Amerikaner noch einmal tatkräftig gesorgt. 

Leonard Linton hielt sein Versprechen, die Hälfte der Kosten von etwa 50 000 Mark für die Gedenkplatten in Ludwigslust zu übernehmen. Er sammelte Spenden von ehemaligen Mitgliedern seiner Division, von KZ-Überlebenden, von US-Regierungsbehörden. Die Herrichtung der Grabstätten aber musste bis zum letzten Augenblick hinausgezögert werden - wegen eines angekündigten Marschs der NPD und einer Gegendemonstration durch Ludwigslust noch vor der Gedenkveranstaltung.

 

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 Dokument erstellt am 01.05.2001 um 21:12:01 Uhr

 Erscheinungsdatum 02.05.2001

 

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